Besser als Fernsehen

Genesis P. Orridge, Urvater des Industrial, verwandelt sich gerade in eine Frau. Mit seiner zweitberühmtesten Band Psychic TV trat er in der Berliner Volksbühne auf. von andreas hartmann

Zuerst betritt die Band die Bühne. Mystisches Mönchschorgebrummel ertönt, die ersten Visuals werden gezeigt. Dann betritt eine weitere Person den Raum, der Sänger von Psychic TV, Genesis P. Orridge, der Johnny Rotten des Industrial, Kultfigur des abseitigen Undergrounds seit bald 30 Jahren. Der Mann, der inzwischen eine Frau ist. Oder der zumindest im Begriff ist, sich in eine Frau zu verwandeln.

Genesis P. Orridge und seine Freundin haben beschlossen, jeweils das Geschlecht zu wechseln. Sie wird zum Mann, während er gleichzeitig zur Frau wird. »Kommuniziert mit den Elementen und den Kräften der Natur. Macht Euch dabei die Technologie zum Werkzeug«, so hieß es einmal in einem Manifest des »Temple Ov Psychick Youth«, des kunstsektenartigen Seitenarms von Psychic TV. Die Geschlechtsumwandlung von P. Orridge und seiner Partnerin wirkt wie die logische Umsetzung dieser Parole. Es kann davon ausgegangen werden, dass weder P. Orridge noch seine Freundin sich wirklich unwohl in ihren Körpern fühlen. Sie wollen einfach nur das technisch Mögliche ausprobieren. Früher transformierte P. Orridge seinen Körper, indem er sich exzessiv tätowieren und piercen ließ, das allein reicht ihm heute eben nicht mehr.

Genesis P. Orridge sieht furchterregend und lächerlich zugleich aus. Sein Auftreten ist äußerst bizarr. Man hat noch das alte Bild von ihm im Kopf, als er bevorzugt in Camouflage-Look und Charles-Manson-Shirt, mit kurzgeschorenen Haaren und eiskaltem Blick den Subkultur-Psycho mimte. Doch hier und heute, bei seinem überraschend anberaumten Konzert mit Psychic TV in der Berliner Volksbühne, ist der alte Genesis P. Orridge völlig hinter einem neuen verschwunden. Und der neue erinnert eher an Karneval.

Irgendwie wirkt er wie die Parodie einer Frau. Das blonde Haar seiner Perücke wurde zu einer Frisur zurecht gemacht, die einfach nur grotesk aussieht, solche Perücken tragen andere im Süddeutschen beim »Weiberball«. Dazu dieser Jeansrock! Und diese Strumpfhose! Auch die Proportionen sind absolut unstimmig. Der Mann als Frau ist ein Witz, hat eine kleine Wampe, einen Brustansatz und Storchenbeine. Nichts passt. Etwas schimmert in seinem Mund, ein Goldzahngebiss vielleicht, man weiß es nicht, Genesis P. Orridge ist und bleibt ein Enigma.

Seltsam ist auch die Musik, seltsam punkig. Zwar waren Psychic TV, die es seit ungefähr 20 Jahren gibt, musikalisch nie wirklich fassbar, doch so punkig wie dieser Auftritt waren ihre Platten nie. Ihre produktivste Phase hatte die Band in einer Zeit, in der Acid-House ausbrach, Ende der Achtziger. Genesis P. Orridge zeigte sich schon früh begeistert von dieser Musik, in der der DJ gerne zum Schamanen verklärt und Drogenkonsum als einer ihrer Dreh- und Angelpunkte begriffen wurde. Natürlich gefiel ihm auch ihr Angriff auf die etablierte Musikindustrie samt ihres Starkults bei gleichzeitiger Herausbildung eigener Vertriebskanäle. Um Drogen, Schamanismus und den Aufbau einer echten und eigenen Subkultur geht es schließlich im kompletten Schaffen P. Orridges. Psychic TV wollten deswegen dann auch dabei sein, als es darum ging, den Popbetrieb aufzumischen, sie schmissen unzählige Platten auf den Markt, zeitweise mehrere in einem Monat, die Musikindustrie sollte von dieser Schwemme an Platten förmlich weggespült werden.

Dabei war die treibende Idee hinter Psychic TV nicht einmal die Musik. Diese sollte nur helfen, das eigentliche Anliegen zu verbreiten, nämlich die Gründung eines »Psychick Television«. Ähnlich wie Jean-Luc Godard lehnte auch Genesis P. Orridge das Fernsehen als Medium nicht einfach als Machtinstrument des ideologischen Gegners ab, sondern er wollte es im eigenen Sinne verbessern, es mit eigenen Inhalten infiltrieren. Der Ansatz war freilich noch abstrakter als der von Godard. Für P. Orridge durfte ein richtiges »Psychick Television« keine narrative Handlung besitzen. Der Mann war schon immer ein großer Verehrer von Brion Gysins’ und William S. Burroughs’ Cut-Up-Technik und konnte außerdem aus dem Bildstörungsgeriesel eines Fernsehers mehr ästhetischen Genuss ziehen als aus jedem Spielfilm. Die Message, ganz klar, ist sogar der Feind des Mediums.

Letztlich ging die Idee, ein alternatives Fernsehen aufzubauen, gründlich in die Hose. BBC oder MTV, wo man eigentlich hinwollte, hatten daran keinen Bedarf. Seit Mitte der Neunziger wurde es dann ruhiger um Psychic TV, und auch der »Temple Ov Psychick Youth« löste sich auf.

Zuletzt sorgte aber auch nicht Psychic TV, sondern Throbbing Gristle für Aufsehen, P. Orridges Band vor Psychic TV, die parallel zu Punk Ende der Siebziger Industrial entscheidend prägte. Zwei Live-CD-Boxen mit insgesamt 36 CDs wurden vor kurzem von ihr veröffentlicht, außerdem eine Best of- und eine Remix-CD. Zudem wurde ein Comebackkonzert der Band angekündigt, die für die Musik von heute ähnlich einflussreich war wie Kraftwerk oder die Sex Pistols. Ein riesiger Festakt war in London geplant, die Karten waren Monate vorher ausverkauft, der Gig wurde dann aber in letzter Minute abgesagt. TG traten zwar trotzdem auf, doch das pompöse Rahmenprogramm wurde ersatzlos gestrichen. Vielleicht wollte man es mit dem Ausverkauf des eigenen Mythos einfach nicht zu weit treiben.

Das ganze aktuelle Treiben von Genesis P. Orridge wirkt also durchaus etwas planlos, doch man kann davon ausgehen, dass es das nicht ist. Denn der Mann, der heute eine Frau ist, war schon immer ein großer Stratege, für den das Pflegen von Widersprüchen und das Erzeugen seltsamer Konvergenzen einfach mit zum großen Spiel gehört. Der Auftritt von Psychic TV in der Volksbühne war dann auch mehr als eine reine Nostalgie-Show. Zwar wirkten die gezeigten grobkörnigen Visuals, bei denen vor allem das Psychic TV-Logo immer wieder neu variiert wurde und die mit ein paar Pornofilm-Sequenzen angereichert waren, ziemlich gestrig. Mit so etwas wollte man damals also ins Fernsehen? Klar, dass daraus nichts wurde. Doch die Musik, dieser eigenartige und hypnotische Psychic TV-Punk, klang eben neu, besser: neuartig. Und Genesis P. Orridge, verkleidet als Hausfrau ohne Geschmack, war letztlich sogar besser als Fernsehen.