Noch immer schlaflos

In dem neuen Film »In the Cut« von Jane Campion verfällt Meg Ryan einem kathartischen Blut- und Liebesrausch. von ulrike mattern

Die in Neuseeland geborene und in Sydney lebende Regisseurin Jane Campion dreht Filme über Frauen, die gerne aus der ihnen vorgegebenen Spur laufen. Die in Connecticut geborene und in Los Angeles lebende Schauspielerin Meg Ryan dagegen übernimmt in Filmen gerne die Rolle von Frauen, die schnurstracks in die Arme eines Mannes rennen.

Die in Hawaii beheimatete, heute in New York lebende Autorin Susanna Moore wiederum schrieb aus der Perspektive einer Frau einen Thriller über einen Mörder in New York, der seine Opfer aufschlitzt. Nun verfilmte Jane Campion das Buch »In the Cut« von Susanna Moore und besetzte die Hauptrolle mit Meg Ryan.

Ausgerechnet Meg Ryan! Sie soll zweite Wahl gewesen sein, nachdem die viel beschäftigte Nicole Kidman wegen anderer Verpflichtungen absagen musste. Kidman hatte bereits 1996 in der Adaption von Henry James’ Roman »Portrait of a Lady« die Hauptrolle in einem Film von Jane Campion übernommen. Zumindest als Produzentin von »In the Cut« blieb sie der Neuseeländerin erhalten.

Meg Ryan wurde als Schauspielerin bekannt durch ihren lautstark inszenierten Orgasmus in einem Schnellrestaurant. Diese Szene aus dem Film »Harry und Sally« erlangte regelrechten Kultstatus. In den neunziger Jahren wurde sie dann berühmt für ihre Darstellung der niedlichen Blondine in watteweicher Filmkost wie »Schlaflos in Seattle«, »French Kiss«, »In Sachen Liebe« oder »E-Mail für Dich«. Nach diesen Auftritten im Genre der romantischen Komödie kam dann der Sprint ins dramatische Fach.

Ein Fehlstart. Bei ihrem Auftritt in »Lebenszeichen – Proof of Life« Anfang 2000 interessierte sich die Presse hauptsächlich für die außereheliche Affäre mit Filmpartner Russel Crowe. Im Anschluss daran betrat sie mit dem Liebesfilm »Kate & Leopold« kurzzeitig wieder vertrautes Terrain, bevor sie sich als Box-Promoterin in »Against the Ropes« in den Ring traute.

Konträr dazu der Karriereverlauf von Jane Campion. Sie hat sich in fünf Lang- und vier Kurzfilmen den Ruf als Chronistin schräger Frauengeschichten erarbeitet. Seit sie mit »Peel« 1982 in Cannes den Kurzfilmpreis erhielt, wurde sie immer wieder mit Auszeichnungen bedacht, u.a. mit dem Silbernen Löwen in Venedig für »Ein Engel an meiner Tafel« und zwei Jahre später mit dem Oscar für das beste Drehbuch (»Das Piano«). Für ihren Film »Bildnis einer Dame« steckte sie dann Nicole Kidman als amerikanische Erbin Isabel ins Korsett einer Ehe mit einem eiskalten Mitgiftjäger.

Frannie im heutigen New York, Protagonistin aus »In the Cut«, ist Isabels Schwester im Geiste: etwas altmodisch, aber redegewandt und cool vor ihren Studenten an der Uni, wo sie englische Literatur lehrt; autark und stumm auf den ungastlichen Straßen New Yorks, wo sie ihren schweren Koffer mit Unterrichtsmaterial hinter sich herschleppt, die prall gefüllte Aktentasche noch unter den Arm geklemmt. Frannie gehört zum Typus der urbanen Amazone, den die schnatternden Gänse aus »Sex and the City« glatt übersehen würden.

Sie ist eines dieser Schattenwesen, wie sie die modernen Metropolen hervorbringen. Sie scheint verwandt zu sein mit der zwischen Selbstzerstörung und persönlicher Kontrolle hin- und hergerissenen Jane Fonda in der Rolle eines Callgirls in »Klute« (1971) oder mit der unter Mordverdacht stehenden Ellen Barkin in »Sea of Love« (1989), der Al Pacino rettungslos verfällt. Am Ende von »In the Cut« torkelt Frannie ohne Schuhe, blutverschmiert in einem schönen Kleid den Highway entlang. Da erinnert sie an die aus der Spur geratene Barkin in dem surrealen Film »Siesta« (1987), die lange Zeit nicht ahnt, dass sie als Tote unter den Lebenden wandelt.

Aber kommen wir nochmals an den Anfang des Films, denn der ist wie immer in Jane Campions Filmen verführerisch: Der Blick öffnet sich übers Wasser. Am Horizont breitet sich die Silhouette von New York aus. Das erste Licht des Morgens taucht die Stadt in ein glühendes Rot. Dissonante Klaviermusik setzt ein. Eine Frauenstimme intoniert das Lied »Que Sera, Sera«. Die Kamera schweift über Industrieanlagen, die blutrote Kinderzeichnung einer Blume erscheint auf dem Asphalt, ein schwarzweißes Graffito auf einer Häuserwand. Das Objektiv fokussiert die Waden einer Frau im schwarzen Kleid mit durchsetzter Spitze am Saum. Frannies Stiefschwester Pauline (Jennifer Jason Leigh) schlendert durch eine Grünanlage zwischen den Häusern, trinkt Kaffee, beobachtet einen Mann beim Tai-Chi. Wind kommt auf und treibt die Blüten der Sträucher wie Schneeflocken durch das helle Grün, lässt sie auf das dunkelblonde Haar von Pauline rieseln. In dem Apartment, das über dem kleinen Park liegt, wehen Gardinen, bewegen sich Mobiles leise vor dem geöffneten Fenster. Im Bett schläft Frannie auf weißen Kissen, öffnet kurz die Augen, sieht im Halbschlaf dem Blütentreiben zu und döst erneut ein.

Diese paradiesische Szenerie geht in einen Traum über, der wie von einer verblichenen Filmrolle abgespult wird: Ein Mann in dunklem Mantel mit schwarzen Handschuhen steht mit dem Rücken zur Kamera an einem zugefrorenen See, ballt seine Finger zur Faust, gleitet dann über das Eis, einer Frau in der Ferne entgegen, die Pirouetten dreht. Er umkurvt sie in einem eleganten Bogen. Dort, wo die Kufen seiner Schlittschuhe das Eis berührten, zeigt sich eine langer, blutroter Riss.

Die Wahl des Titelsongs – »Que Sera, Sera« – ist eine Referenz an Doris Day, die ihn 1956 in dem Krimi »Der Mann, der zu viel wusste« von Alfred Hitchcock sang. Die Liedzeile »Whatever will be, will be/The future’s not ours to see« liegt über dem Intro wie eine kühle Ankündigung des Schreckens, der in den Moment der Stille einbricht. In dem Park finden Polizisten eine Frauenleiche, das Opfer eines Serienmörders. Dieser Frau hatte Frannie Stunden zuvor beim Blow-Job im Keller einer Bar zugesehen. Der Mann, über dessen Schritt sie gebeugt war, trägt ein Tattoo am Handgelenk, welches Frannie später bei dem ermittelnden Detective (Mark Ruffalo) entdeckt. Er befragt sie im Rahmen der Ermittlungen. Die beiden beginnen eine Affäre. Frannie weiß, dass er mit dem Opfer zu tun hatte. Er jedoch streitet die Verbindung ab.

Gerade Meg Ryan! Um den eingangs angeführten Zweifel über die Besetzung der Hauptrolle mit America’s Sweetheart nochmals aufzunehmen: Gut, muss man letztlich doch sagen, dass Nicole Kidman verhindert war. Meg Ryan hat ihren Klein-Mädchen-Charme an der Garderobe abgegeben, zieht sich – auch im wörtlichen Sinne – bis aufs letzte Hemd aus, um in einem kathartischen Liebes- und Blutrausch einer Spur zu folgen. Der richtigen?

«In the Cut« (USA, 2003), Regie: Jane Campion. Start: 29. September