Auch

Schriftsteller mit, Schriftsteller ohne Buch. Von Stefan Ripplinger

Für Henrik Ghanaat

Eines Morgens beschließen Sie, anstatt sich, wie seit Jahren stets, ein Müsli mit Kernen anzurühren, zwei gewöhnliche Schrippen zu besorgen. Hut, Mantel, schon sind Sie in der Bäckerei, wo ein einziger Kunde vor Ihnen ansteht. Er bestellt »zwei Schrippen«. Nun sind Sie dran, und Sie hören sich sagen: »Für mich auch zwei Schrippen, bitte.«

Dieses »auch« ist Ihnen, schon in dem Moment, da Sie es aussprechen, unangenehm. Denn Sie haben eine Lust auf Schrippen und nicht auch eine, und Sie wollten etwas und nicht auch etwas bestellen. Syntaktisch unbedeutend, stilistisch überflüssig, beweist die Partikel »auch«, dass bereits indem Sie den Satz, Ihren Satz, sagen, er wie ein Eisenspan an den Magneten des bereits Gesagten springt. Was immer Sie sagen, ist bereits gesagt; es fügt sich an, es fügt sich ein.

Wenn Sie ein deutscher Romancier oder eine deutsche Romancière sind, müssen Sie die Niederlage in der Bäckerei zum Ausgang einer weiteren historia calamitatum nehmen. Sagen Sie, da Sie es zum ersten Mal tun: »Ich schreibe gerade einen Roman«, oder sagen Sie: »Ich schreibe auch gerade einen Roman«? (Um ein Missverständnis zu vermeiden, sei auf den Unterschied zwischen dem betonten Modaladverb »auch«, etwa in »Auch ich will ein Stück vom großen Kuchen!« oder »Auch ich schreibe einen Roman«, und der unbetonten Partikel, wie in »Ich schreibe auch gerade einen Roman«, hingewiesen. Die Partikel kennzeichnet den Satz als Teil eines großen Texts, sie ist nicht Manifestation eines Willens, sondern beiläufiger Tribut ans Ganze, an die Bäckerei, an die Schriftstellerei, an die vielen kleinen Brötchen.)

Vielleicht denken Sie gar nicht darüber nach, und das wäre Ihr Glück. Den Erfolg der Erfolgreichen sichert, dass sie nicht wissen, was sie tun. Vermutlich aber denken Sie wochenlang an nichts anderes als daran, das Unvergleichliche vergleichen und nun in jenen von Verlegern, Lektoren, Typographen, Marketingmanagern, Imageberatern überfüllten Raum eintreten zu müssen, den Gérard Genette das Vestibül zum Werk genannt hat (»Seuils«, Paris 1987).

Dieses Vestibül wird später auch jeder Ihrer Leser, gewissermaßen vom Vordereingang her, betreten, und sogar derjenige, der Ihren Roman in der Buchhandlung nur mit spitzen Fingern anfasst und gleich wieder auf den Stapel zurücklegt. Schon bevor dieser Nicht-Interessierte Ihren Namen und den Titel des Romans gelesen hat, hat er gesehen, dass es sich um einen Oktavband handelt, er hat Papier und Schrift begutachtet, vielleicht das Autorenporträt auf der Umschlagklappe betrachtet, die dürftigen Angaben zu Person und Inhalt überflogen und ist zum Schluss gekommen, dass von Ihrem Verlag, dessen Programm er schon immer verabscheut hat, nichts anderes zu erwarten war. Sie haben auch einen Roman für diesen Verbrecherverlag geschrieben.

Jene die Schrift umspielenden, umringenden, umrandenden, also, wie Genette sagt, »paratextuellen« Elemente sind das Auch Ihres Buchs. Es hat auch einen Autor, es hat auch einen Titel, es ist auch ein Roman, es ist auch aus der Garamond gesetzt, usw. Der Paratext ist der Höllensturz des Texts in die Kontingenz. Aber keinen anderen Weg gibt es »pour le présenter«, mehr noch »pour le rendre présent« (Genette) in der Welt, in der er nackt, als bloßes Manuskript, verloren wäre.

Es wird Schriftsteller geben, es sind die meisten, die ins Vestibül eintreten, hier ein Schwätzchen, da ein Schwätzchen halten, um dann zum Werk, ihrem Werk, zügig fortzuschreiten. Andere, wohl nicht wenige und nicht die schlechtesten, haben einen Blick auf all das geworfen und sind unverrichteter Dinge wieder abgezogen. Von ihnen gibt es wenig Nachricht; ich will am Ende von einem berichten. Und einem gefiel es so gut im Vestibül, dass er sich länger als alle andern darin herumtrieb. Er heißt Dieter Roth (1930–1998).

Roth hat sich als bildender Künstler nicht für Werke, sondern für deren Lebensläufe, ihr Entstehen und Vergehen, interessiert. Monumente aus Schokolade errichtete er, um sie in sich zusammenstürzen lassen, Porträtbüsten setzte er Vögeln zum Fraß vor, Sonnen aus Salami verschimmelten im blauen Meer. Und wenn er ein Stück aus seiner Hand entließ, lieferte er oft gleich die ganze Werkstatt mit, weil ihm die Vorstellung von einer creatio ex nihilo aufgesetzt erschien.

Wer so, aus welchen Gründen immer, dem Werk den Boden entziehen will, der muss sein Buch z.B. »Buch« (isländisch »bók«) nennen, der muss den Autor entautorisieren und sich z.B. abwechselnd Diter Rot und diter rot, Dieter Rot oder D. Rot, gar Karl-Dietrich Roth oder »D.R., den Schweizer im inneren Ausland«, einfach Dieter Roth oder Max Plunderbaum, oder Fax Hundetraum, oder Wix Stundenschaum nennen. »Si vous savez changer de nom, vous savez écrire.« (Genette)

Die wichtigsten Erkennungsmerkmale eines literarischen Werks sind hier maskiert: Titel und Autor. Der Titel »Buch« sagt nichts, der Autor wird entweder nicht genannt, trägt einen Allerweltsnamen oder so viele verschiedene, dass zumindest in den Sechzigern sich mancher Buchhändler, mancher Bibliothekar gefragt haben muss: Ist es derselbe? Und das ist ja eine gute Frage.

Die gesamte Scheiße

Sie, der Sie ungeduldig darauf warten, Ihre Romane anzubringen, und sich gar nicht so lange mit mir aufhalten wollten, werden, nach kurzem Blättern in einer einschlägigen Bibliographie, einwerfen, dass Roth gar keine Romane geschrieben hat, sondern »Künstlerbücher«, und das seien keine literarischen Werke im strengen Sinn. »bók 2a«, »bók 2b«, »bók 3a«, »bók 3b«, »bók 3c«, »bók 3d« usw., Op-Art, Grafiken, Konvolute von Makulaturblättern, die er ebensogut »opus 1«, »opus 2« usf. hätte nennen können, zur Unterscheidung für denjenigen, der diese signierten Raritäten sammelt und Wert auf Vollständigkeit legt.

Dann wird Sie folgende Liste erstaunen: »Scheisse«, »Noch mehr Scheisse«, »DIE GESAMTE SCHEISSE«, »FRISCHE SCHEISSE«, »Die DIE GESAMTE SCHEISSE«, »die Die DIE VERDAMMTE SCHEISSE«, »die Die DIE GESAMTE SCHEISSE«, »Die die Die DIE verdammte GESAMTE Scheisse«, »Die die Die DIE GESAMTE verdammte SCHEISSE«, »Die die Die DIE GESAMTE VERDAMMTE KACKE«, »Die Die Die DIE verdammte GESAMTE KACKE«. Diese Bücher, alle von Diter oder Dieter Rot bzw. von Karl-Dietrich Roth, enthalten zwar auch Zeichnungen, aber im Wesentlichen Gedichte, wenn auch, in vornehmer Kunsthistoriker-Manier, heute nicht vom Inneren der Literatur die Rede sein soll, sondern, in beiderlei Sinn, vom Äußern.

Nehmen wir das erste Bändchen, aus dem Jahr 1966, in die Hand. Es ist dünn, mit blauem Papier eingeschlagen. – Blau, die Farbe des Himmels und die Lieblingsfarbe all jener, die gern nach oben und nicht nach unten, auf den Kot der Straße, blicken. Der Haupttitel auf dem Umschlag ist aus der geschwungenen, sperrigen Garamond (Scheisse) gesetzt, der komplette lautet: »Scheisse / von Dieter Rot / Mit einem Anhänger von Al Fabri«.

»Scheisse« gibt, folgen wir weiter Genette, eher Rhema als Thema, eher ein Was als ein Wovon, denn zwar wird in den Gedichten manchesmal geschissen, aber wichtiger ist, dass zarte Farbe und gediegene Type des Titels auf solche anspielen, die Wertvolles, ja Himmlisches versprechen, wie der sehr häufige »Schatz« in »Schatz-Kästlein«, »Hausschatz«, »Citaten-Schatz« usw., oder auch andere viel versprechende wie »Auslese aus deutschen Dichtern«, »Meisterbuch der Erzählungen«, »Preisgekrönte Kurzgeschichten«, »Der vortreffliche Humorist«, »Fürtreffliches Denck-Mahl«, »Schöne Auslegung über das göttliche Gebet Vater unser, das uns Gott selbst gelernt hat« oder »Hervorragende Gemälde niederländischer Meister«. »Scheisse« ordnet sich so gesehen weniger einem konkreten Stoff zu als vielmehr einer Klasse von Büchern, nämlich der untersten, die wir uns denken können.

Schlagen wir das Bändchen auf, lesen wir: »SCHEISSE / Neue Gedichte / von / DITER ROT / Providence«. Der Titel ist nun durch die Schreibung in Versalien auf den Autor (der sich nun anders schreibt) bezogen, und es ist ihm eine verwirrende Genreangabe nachgestellt, »Neue Gedichte«, als ob Roth solche vorher veröffentlicht hätte. Überdies ist Albrecht Fabris Anhänger abgekoppelt (findet sich aber dennoch im Band). Wenn der Titel der im Vestibül thronende »Pförtner des Buches« (Genette) ist, ist Roths Pförtner ein brauner Unhold in blauer Livree, der sich bei näherem Zusehen als ein Freund, wenn nicht als Muse des Dichters erweist. Kein Leser passiert seine Loge, ohne wenigstens gestutzt zu haben.

Aber das ist erst der Anfang, und »Noch mehr Scheisse. Eine Nachlese« (1968) präsentiert keine Nachlese, sondern bloß eine Vorauswahl der Vorauswahl. Dieser Folgetitel wirft das von Genette beschriebene Problem auf, ob er thematisch oder rhematisch zu lesen sei, also ob er »noch mehr Scheisse« oder noch mehr »Scheisse« ankündigt. Bieten Roussels »Nouvelles Impressions d’Afrique« neue Impressionen oder eine Fortsetzung der »Impressions«? Handeln die »Neuen Leiden des jungen Werther« von neuen Leiden oder sind sie neue »Leiden des jungen Werthers«? Roth beantwortet diese Frage unmissverständlich: »Die DIE GESAMTE SCHEISSE« ist eine Klitterung und Ergänzung des »DIE GESAMTE SCHEISSE« betitelten Bandes, während »die Die DIE GESAMTE SCHEISSE« wiederum den ersten klittert und ergänzt. Die klein, gemischt oder versal geschriebenen Artikel markieren die logischen Stufen der Titelserie, die man sich als eine Rahmung von Rahmen vorzustellen hat:

DIE GESAMTE SCHEISSE

?

Die »DIE GESAMTE SCHEISSE«

?

die »Die ›DIE GESAMTE SCHEISSE‹«

Roth betreibt mit dieser Folge, die Zitate Zitate zitieren lässt, eine konsequente Rhematisierung und Extensionalisierung des Originals und liefert immer neue Mitteilungen über »Scheisse«, statt neuer Scheiße. Das spiegelt das Verfahren dieser Sammlungen, die das Original seiner Originalität restlos entkleiden (was selbstverständlich sehr originell, zumindest aber beispiellos ist).

Mit Ihrem Roman, dessen Titel, »Bange Bäckerei«, lange schon feststeht, hat all das wenig zu tun, deshalb will ich, bevor ich Sie zum Ausgang geleite, noch an anderen Sehenswürdigkeiten des Vestibüls vorbeiführen. In einigen seiner Essays aus den siebziger Jahren hat Roth zu Gunsten des Paratexts auf Text fast vollständig verzichtet. Z.B. enthalten die beiden Heftchen »Dieter Rot: Wer war Mozart?« und »WER IST DER DER NICHT WEISS WER MOZART WAR / Ein Essay / von / D. Rot« (1971) jeweils nur einen einzigen Satz, diesen: »Ich weiss es nicht.«

Der Rest ist Paratext: Autor, Titel, Zeichnungen von Peter Roesch auf dem Umschlag des ersten Heftes, blaugrüne Farbe des zweiten, Motti (»Es füllt sich mit Erwartung da rein / das kleinste Buch – so soll es sein«, »Es füllt sich mit Erwartung da rein / das kleinste Kind – so soll es sein«), Genre (»Essay«) und editorische Angaben (»1. Aufl. 200 Exempl. printed in Iceland by Prentsmi∂ja Jóns Helgasonar. Copyright D. Rot«). Hier erweist sich die Zusammenhang stiftende Funktion des Paratexts, denn die beiden Hefte sagen nur zusammen oder gegeneinander gehalten etwas; Autor, Titel und Motti bestimmen sich jeweils gegenseitig.

Für mich

Auch »2 PROBLEME UNSERER ZEIT«, »EINE FRAGE?« (beide 1971) und »DAS VERHALTEN DES ALLGEMEINEN ZU ODER GEGENÜBER DEM BEZIEHUNGSWEISE DES BESONDEREN ZU ORDER GEGENÜBER DEM ALLGEMEINEN« (1972) enthalten jeweils nicht viel mehr als einen Satz, jedes einzelne Wort oder jeder einzelne Buchstabe kolumnen- und seitenweise wiederholt oder permutiert, so dass erst nicht auffällt, wie prägnant diese Essays sind. Die Sätze erläutern die Leere:

Undeutliche Gefühle sollten hier nich ausgedrückt werden, deutliche auch nich, auch undeutliche nich, deutliche sollten hier nich ausgedrückt werden, auch undeutliche sollten auch hier nich ausgedrückt werden. (»2 Probleme …«)

und

Währenddem ich zu dieser Frage dieses schreibe, frage ich mich unter anderem: Was soll das! Vielleicht sollte ich sagen: Was soll das? Diese sind eben alles solche Sachen. (»Eine Frage?«)

und

Manche haben sich Gedanken zu oder ueber dieser oder diese Sache gemacht, so dass nur leichter Weise ich hier etwas noch zu drucken wage dass also das, was jetzt hier steht, weder irgend etwas besseres oder Anderes sagen wollen soll als das, was zum Behandelten oder nicht mehr behandelten Thema schon gesagt oder geschrieben worden ist, gerne auch nichts Schlechtes, Schlechteres, Anderes oder Gleiches, gern auch nichts neues, Altes jedoch auch nicht so gerne. (»Das Verhalten des Allgemeinen …«)

Was gesagt werden müsste, kann nicht gesagt werden. Was gesagt werden könnte, ist schon gesagt. Dennoch sind drei Bücher erschienen, deren Reichtum an Paratext blendet. »DAS VERHALTEN …« etwa bietet, neben dem scholastischen Titel, Widmung, Inhaltsübersicht, »Eingangsphrase«, ein experimentelles Vor-, ein experimentelles Nachwort, Impressum und nicht zuletzt einen ausführlichen Klappentext, von dem aber nicht der geringste Aufschluss über Werk und Autor erhofft werden darf.

Fassen wir zusammen, dass Roth, der Unvergleichliche, nichts lieber tat, als sich zu vergleichen; er schrieb nicht Texte, er schrieb Bücher. Das üppige Rankenwerk seiner Essays verflicht sie mit der Tradition großer Gelehrsamkeit. Z.B. verknüpft sich das »tentative Logico-Poeticum« aus dem Untertitel von Roths Hauptwerk »Mundunculum« (1967) mit Wittgensteins »Tractatus logico-philosophicus« (1918), der sich wiederum mit Spinozas »Tractatus Theologico-Politicus« (1670) verknüpft. Jeder dieser drei Traktate sagt, was er an Eigenem zu sagen hat, indem er sich von dem abgrenzt, wovon zu schweigen ist; Spinoza zieht den religiösen Sätzen eine bewehrte Grenze, Wittgenstein den philosophischen und Roth den Sätzen überhaupt.

Wenn Titel gesellig sind und Familien mit anderen des Autors und mit berühmten und populären der Literaturgeschichte bilden, sind Widmungen nicht nur familiär, sondern geradezu schamlos, denn sie zerren Intimes ins Rampenlicht. Aristokratische Autoren wie Stendhal beschränken sich deshalb auf ein hochmütig hingeworfenes »To the happy few!«, während der bürgerliche Balzac mit seinem großzügigen Widmen, wie Genette meint, eine »freiwillig exhibitionistische Autorhaltung« demonstrierte. Roth war vielleicht ein Stendhal, der Balzac spielte. Wenige seiner zahllosen Werke sind nicht gewidmet. Wer die Bände seiner »Gesammelten Werke« durchmustert, findet traditionelle Freundschaftspflege – »Gerhard Rühm gewidmet«, »Vigfús gewidmet«, »this book is for KALLI« usw. – ebenso wie das Bewusstsein davon, dass gute Leser eine happy few sind: »für die isländer, die englisch, deutsch, kunst und rotsch verstehen«.

Wenn er gar keine Leser erwartet, schreibt er: »Fräulein Niemand gewidmet«, »jemandem gewidmet« oder »Kan In Chen gewidmet«. Und, ja, warum nicht gleich: »diter rot gewidmet«. Die Autodedikation – ein Autor widmet sich sein eigenes Werk – ist wesentlich seltener als der Fall, dass der Autor sein einziger Leser bleibt. Ausgerechnet bei dem von Roth so verachteten Joyce, der seine erste Schrift »der eigenen Seele« zueignete, lässt sie sich nachweisen.

Roth scheint der wahre Lord Auch der Literatur zu sein. Seine Bücher, angetan mit dem ganzen Putz des klassischen Werks von Titel, Untertitel über Widmung, Motto, Vor- und Nachwort, schreien ein so schrilles »Auch!« aus, dass man den Spott, der darin liegt, schwerlich überhören kann. Der Putz selbst ist Aufmerksamkeit heischende Maskerade.

Rar wie die Autodedikation ist die Maskierung der Verlagsangabe, denn sie kommt zwar in Zeiten scharfer Zensur gelegentlich vor, aber nie ohne Not wie im Werkverzeichnis Roths, das eine »Edition Hansjörg Mayer mit taucherverlag« kennt, eine »wasserpresse (waterpress) vormals Edition Hansjörg Mayer (taucherverlag)« und einen »seimannsverlag vormals Edition Hansjörg Mayer«. Genette nennte kein einziges Beispiel für ein solches paratextuelles Spiel, wäre nicht seine eigene Studie eines, denn die »Seuils« erschienen wohl nicht zufällig in den »Éditions du Seuil« (oder wurden, da sie dort erschienen, nicht zufällig so betitelt). Dass wiederum ein weiterer Verlag Roths »Verlag« heißt, wird nach dem Gesagten nicht weiter überraschen.

Dazu gäbe es noch sehr viel zu bemerken, aber ich sehe, Sie werden ungeduldig und haben nun endgültig genug von kindischen Spielen, Sie, mit Ihrem seriösen Roman, den ich Ihnen gewiss nicht ausreden will (im Gegenteil freue ich mich über jeden, den ich nicht zu lesen brauche). Fahren Sie doch zu Ihrem Symposion in der Evangelischen Akademie Bad Boll, halten Sie Ihre brillante Dankesrede, wenn sie den Arno-Schmidt-Ehrenpreis empfangen. Ich könnte Sie versichern, dass all diese Spiele weitaus ernster sind als Ihre ernstesten Absichten, aber gehen Sie ruhig, ich füge zu meinem Vergnügen noch ein Gedächtnisblatt über den Schriftsteller ohne Buch an.

Grabstein des Glücks

Dieser Schriftsteller mag keine Bücher und findet immer neue Ausreden, keins zu schreiben. Vielleicht denkt er, nicht ob oder ob nicht etwas zu veröffentlichen, sei die Frage, sondern wie, wozu und vor allem für wen. Vielleicht fällt ihm kein Wie, kein Wozu, kein Für-wen ein. Oder er möchte nicht Montesquieus Dummkopf sein:

Scheint auch die Natur weise dafür vorgesorgt zu haben, dass die menschlichen Dummheiten vorübergehen, verewigen die Bücher sie doch. Ein Dummkopf sollte zufrieden damit sein, diejenigen gelangweilt zu haben, unter denen er weilte, allein, er will auch die zukünftigen Generationen quälen; er will, dass seine Dummheit über das Vergessen triumphiere, dessen er sich doch als eines Grabsteins hätte erfreuen können; er will, dass die Nachwelt darüber unterrichtet sei, dass er gelebt hat, und dass sie auf ewig weiß, dass er ein Dummkopf war. (»Lettres persanes«, LXVI)

Vielleicht will er sich also des Vergessens als eines Grabsteins über seinen Dummheiten erfreuen. Wie der Pianist Clifford Curzon, der keine Schallplatten mit seiner Musik aufnehmen wollte, sagt er vielleicht: »I am always so depressed by these appointments with posterity.« Seine Nachfolger sind wohl nicht sehr zahlreich, doch werden ihre Zahl und ihre Namen nur schwer herauszufinden sein, denn sie veröffentlichen nie auch nur eine einzige Zeile, und wenn doch, dann nur, um ihr baldiges Verstummen anzukündigen oder sich für ihre Geschwätzigkeit zu entschuldigen. Sie sind die natürlichen Vertreter des reinen Texts, vor dem Genette ebenso warnt wie vor dem reinen Paratext:

Wenn der Text ohne Paratext manchmal wie ein Elefant ohne Führer ist, hilflose Kraft, ist der Paratext ohne Text ein Führer ohne Elefant, kraftlose Schau.

Maurice Blanchot etwa hat seine Elefantenbullen ohne Führer hinausgeschickt und seine Bücher von jeglichem paratextuellen Plunder entblößt, keine Untertitel, keine Genres, keine Widmungen, keine Vorworte, keine Nachworte, nun ja, fast keine Nachworte, Hinweise höchstens, keine biographischen Angaben, keine Autorenporträts, keine Talkshows, keine Interviews, dass sich, als ob solche ungebändigte, führerlose Kraft einem Leser nicht zuzumuten wäre, der Verleger meiner Taschenbuchausgabe von »Le livre à venir« (1959) genötigt sah, auf das Vorsatzpapier kursiv die Sätze zu drucken:

Maurice Blanchot, Romancier und Literaturtheoretiker, ist 1907 geboren. Sein Leben ist vollständig der Literatur gewidmet und dem Schweigen, das ihr eignet.

Diese Hingabe ist so verführerisch, so rein, so heilig, dass die Frage frevelhaft erscheint, ob sie nicht damit noch zu steigern wäre, indem auch auf einen öffentlichen Namen, auf Titel und Zwischentitel, auf Fußnoten und auf die biographische Notiz des Verlegers noch, kurz auf ein Buch Verzicht geleistet würde? Gegen frevelhafte Fragen ist kein Einwand zu tun, wohl aber gegen unbedachte. So gefragt, wäre ein Buch wie das andere, und die einzige Möglichkeit, das Schweigen der Literatur zu hören, bestünde darin, nicht mit den Tasten zu klappern. So gefragt, müsste der Schriftsteller aufhören zu schreiben. Wenn wir aber die Literatur nicht mehr vom Buch her betrachten, zeigt sie sich in einem andern Licht.

Könnte es nicht sein, dass einer zwar auf ein Buch zusteuert, es aber, wie eine Insel im Ozean, verfehlt und so große Lust daran findet, nicht angekommen zu sein, dass er nicht aufhört zu fahren, zu denken und zu schreiben, um nie wieder an einem Ufer landen zu müssen? Blanchot sieht dieses Glück bei Joseph Joubert (1754–1824).

Er schrieb niemals ein Buch. Er bereitete sich lediglich darauf vor, eins zu schreiben, und traf entschlossen die Vorbereitungen, die nötig sind, es zu schreiben. Dann vergaß er sein Vorhaben. Oder, genauer gesagt, das, was er suchte, dieser Ursprung der Schrift, dieser Raum zum Schreiben, dieses Licht, den Raum zu umschreiben, erzwangen und bestärkten Haltungen, die ihn ungeeignet zu jeglicher literarischen Tätigkeit machten oder ihn sich von ihr abwenden ließen. Von da an war er einer der ersten ganz modernen Schriftsteller, einer, der das Zentrum dem Rand (sphère) vorzieht, die Ergebnisse der Entdeckung ihrer Voraussetzungen opfert und nicht mehr schreibt, um ein Buch dem andern folgen zu lassen, sondern um sich des anscheinenden Ursprungs aller Bücher zu bemeistern, der, einmal gefunden, ihn enthöbe, darüber zu schreiben.

Der Ursprung des Buches ist das Nicht-Buch, und vor das Schreiben haben die Götter das Nicht-Schreiben gesetzt. Da von einem zum andern ein Weg zurückzulegen ist, kann es wohl vorkommen, dass einer unterwegs verloren geht. Aber was ist so modern daran? Denkt der moderne Schriftsteller nicht in Tetralogien und gerät augenblicklich in Vergessenheit, wenn er nicht auf beiden Buchmessen oder wenigstens in Elke Heidenreichs Show präsent war? Ist das Merkmal der Moderne nicht Reproduzierbarkeit, Massenzeichenware? Und liegt ihr ästhetischer Charakter nicht, anstatt in einer Bevorzugung des »centre« vor der »sphère«, in dem, was der Reaktionär den »Verlust der Mitte« nennt? Die »sphère«, das wären ja Anlässe, Begleitumstände, Nebenbedeutungen, das wären Öffentlichkeit, Markt, das wäre der Paratext, der im Kapitalismus größeres Gewicht besitzen muss als in früheren Sklavenhaltergesellschaften.

Wem’s gefällt

Vielleicht ist eine gegenläufige Tendenz zu entdecken. Blanchot schreibt, Joubert opfere die Ergebnisse der Entdeckung ihrer Voraussetzungen auf. Besser lässt sich etwa das hochmoderne Rothsche Verfahren nicht beschreiben. Blanchot schreibt auch, Joubert sei zum Ursprung der Schrift gestrebt, habe den Raum zum Schreiben betreten wollen. Dieser Raum liegt gewiss diesseits des Vestibüls, aber könnte es nicht sein, dass einer, der wie Joubert die ideale Voraussetzung des Schreibens sucht, zum selben Schluss gelangt wie einer, der im Vorraum des Werks seine materiellen Voraussetzungen erkundet?

Joubert:

Die Wörter müssen dem Schweigen entspringen.

Roth:

der letzte name vor dem unnennbaren: PAPIER

Nicht der in seiner Stube dahinträumende Nicht-Schriftsteller Joubert ist vormodern, der Magie verfallen, sondern die Buchindustrie, die Ballen um Ballen Papier bedruckt, vorspiegelnd und vor allem sich selbst vorspiegelnd, es stünde etwas darauf. Wer nur, wie Roth, lange genug auf das bedruckte Papier starrt, erkennt die falsche Versprechung, den Voodoo.

Und doch gibt es nicht nur Bücher von Roth, sondern auch welche von Joubert. Sind es Bücher von Joubert? Es ist daran zu erinnern, dass Chateaubriand 14 Jahre nach Jouberts Tod eine Auswahl seiner Notate herausbrachte und einige Jahre später Paul de Raynal eine weitere. Erst Jeanne und André Beaunier edierten 1938 die vollständigen »Carnets«.

Aber hat Joubert die »Carnets« geschrieben? Mit Sicherheit nicht. Er kritzelte in Kladden, daher der Titel, der nicht von ihm, sondern von den Beauniers stammt. Es gibt aber auch Kladden, die Bruchstücke zu Essays enthalten und vielleicht mit einigem Recht separat veröffentlicht worden sind. Schließlich fanden sich im Nachlass lose Blätter, ebenfalls von Jouberts Hand. André Beaunier merkt am Ende der zweibändigen Ausgabe (Paris 1994, 2. Aufl.) zu ihnen an:

Es gibt, nicht in Jouberts Kladden, aber auf seinen Zetteln, eine gewisse Zahl nicht datierter Schriften. Bei den meisten habe ich, mit einiger Gewissheit, ein Datum ermitteln oder vermuten können; ich habe sie an ihren Platz gerückt und immer angemerkt, wenn ich bloß einer Vermutung folgte. Im Folgenden stelle ich zusammen, was meinen Ermittlungen widerstand und ich undatiert lassen muss. Man wird bemerken, dass nicht nur das Datum dieser verschiedenen Stücke, die ich nicht zuordnen konnte, von keiner sonderlich großen Bedeutung ist, auch wenn die Gedanken an sich von Interesse sind.

Wie nicht anders zu erwarten, hat der Herausgeber nach Gutdünken Blätter und Notate geordnet und ist, da sich keine bessere anbot, einer chronologischen Ordnung gefolgt, obwohl er selbst eingesteht, dass Chronologie bei dem meist völlig außer der Zeit schreibenden Joubert von geringer Aussagekraft ist. Was sich der Ordnung nicht fügt, wird in den Anhang gesammelt. Die Arbeit der Beauniers ist verdienstvoll und nicht zu verbessern, aber es bleibt doch bestehen, dass sie das Buch eines Mannes in Druck gaben, der kein Buch schreiben und deshalb auch keine Anweisungen zu Textgestalt und Paratext erteilen wollte. Wir kennen ein Requiem von Mozart und Franz-Xaver Süßmayr, der Mozarts Entwürfe zu Ende komponierte, aber keine »Carnets« von Joubert und den Beauniers, sondern lediglich ein Buch der Beauniers über Joubert.

Das führt zwangsläufig zu der Frage, ob, da es schon keinen Publizisten Joubert gibt, wenigstens ein Autor dieses Namens existiert. Sie ist zusammen mit der zu beantworten, ob diter rot, D.R., Karl-Dietrich Roth, Max Plunderbaum, Fax Hundetraum, Wix Stundenschaum und Dieter Roth ein und dieselbe Person sind. Das können sie aber nicht sein, denn Fax Hundetraum ist bekanntlich ein Schüler von Max Plunderbaum, und ein Mann kann nicht sein eigener Schüler sein. Wie die Pseudonyme sind auch die anderen Aliasse Rollen; die Schreibung diter rot schmiegt sich der dieser frühen Schriften an, und nicht umsonst signiert der Dichter den letzten – vom Original am weitesten entfernten – Band der »Scheisse«-Multilogie mit seinem amtlich beglaubigten Namen. Wären aber alle seine Bücher mit ein- und demselben Namen, sagen wir Dieter Roth, überschrieben, wäre doch nicht sicher, ob der Dieter Roth des »bilderbuchs« derselbe wie der des »Lebenslaufs von 6C Jahren« ist.

Ist der Autorenname also eine Funktion des Werks, gibt es ohne Werk auch keinen Autorennamen; und ein Autor ohne Namen gilt noch weniger als ein anonymer. Ein Autorenname gebührt dem, der auctoritas besitzt, etwas zu sagen, Berechtigung, Würde, Meisterschaft. Das Werk allein kann sie verbürgen. Mag diese Macht in den meisten Fällen bloß angemaßt sein, erscheint sie einigen feineren Köpfen auch dann zweifelhaft, wenn sie zu Recht ausgeübt wird. »Autor wird, wer es sich gefallen läßt«, schrieb Uwe Nettelbeck. Auf je eigene Weise wollten es sich Joubert und Roth nicht gefallen lassen. Darüber, dass der eine die öde Insel des Werks sicher umschifft und der andere Werke, gar »Gesammelte Werke«, in der Absicht anhäuft, das Werk, oder sagen wir DAS WERK, zum Einsturz zu bringen, kann gar nicht lange genug nachgedacht werden. Aber genug gedacht für heute Morgen.

Vom Verfasser: »Scheiße, Pudding und Zubehör. Über Dieter Roths Bücher« (mit einer vollständigen Bibliographie), in: Dieter Roth: Bücher + Editionen. Catalogue Raisonné. Bearbeitet von Dirk Dobke. Hamburg / London 2004. »Einige Ansichten unter freiem Himmel. Joseph Joubert (1754–1824)«. Die Republik, 110/2001