Das große leere Rechteck

Akademische Spekulationen unter Anhängern einer Tiefkühlreligion – ein Bericht von der Transvision 2004 in Toronto. Von Ferdinand Muggenthaler

Stelios Arcadiou hat sich ein drittes Ohr wachsen lassen. Das Organ ist die auf ein Viertel verkleinerte Kopie seines linken Ohrs, gewachsen aus menschlichen Zellen im Bioreaktor. Ein solches Ohr, gezüchtet aus seinen eigenen Zellen, möchte Arcadiou sich auf seinen Unterarm operieren lassen. In einer Videoanimation zeigt er, wie das aussehen würde. Sehr zu seinem Bedauern hat er bis jetzt niemanden gefunden, der diese eigenwillige Operation an ihm vornehmen will.

Arcandiou nennt sich Stelarc. Sein Kunstprojekt ist sein Körper oder besser die technische Erweiterung und Umgestaltung seines biologischen Körpers. »The body is obsolete!« postuliert er auf seiner Homepage. Bei seinem Auftritt Anfang August im kanadischen Toronto muss er dem Publikum sein Anliegen nicht erklären. Es ist die Abendveranstaltung der »Transvision 2004«. Im McLeod Auditorium der Universität von Toronto sitzen Menschen, die sich selbst für »morphologische Freiheit« einsetzen. Sie nennen sich Transhumanisten, und die Freiheit, den eigenen Körper mit allen verfügbaren Mitteln nach Belieben zu gestalten, ist eine ihrer zentralen Forderungen. Wenn es möglich wird, sich gentechnisch mit grüner Haut oder drei Armen auszustatten, dann soll das niemandem verwehrt werden.

Zu Beginn der Konferenz gibt es einen Crashkurs für Journalisten. Nick Bostrom, Philosoph an der Universität von Oxford, zeigt ein Diagramm. Ein großes leeres Rechteck symbolisiert den Raum möglicher Seinsformen. Rechts unten drängt sich eine kleine Blase. Sie symbolisiert die von Tieren bevölkerten Seinszustände, darin ein noch kleinerer Bereich, der dem heutigen Menschen zugänglich ist. Jämmerlich beschränkt, gefangen in einer Subsphäre des Tierreichs. Erst der durch Technik verbesserte Mensch, der Transhumane, bricht aus dem Bereich des Tierischen aus, und ein Posthumaner in der vollen Blüte seiner Möglichkeiten kann das ganze leere Rechteck, die ganze terra incognita, durchschreiten. Diesen posthumanen Raum erforschen zu können, ist die Sehnsucht der Transhumanisten.

Für Leute, die es gern weniger abstrakt haben, bietet Bostrom eine pragmatische Definition an: Der Transhumanismus ist eine Bewegung, die sich für bessere Lebensbedingungen für die Menschen dank Technologie einsetzt. Er denkt dabei vor allem an ein längeres gesundes Leben, an ein verbessertes Gedächtnis oder auch an erweiterte Musikalität und ein intensiveres erotisches Empfinden. Schön wäre es doch auch, wenn man sich seine Gefühle frei wählen könnte. Wie wär’s mit einer andauernden romantischen Verbindung mit Ihrem Partner? Sie sollen einen Artikel schreiben? Da wäre doch eine Pille praktisch, die einen automatisch in einen flow state versetzt, in dem die Sätze nur so fließen und nichts die Konzentration stören kann.

Irgendjemand sagt, in Kanada würde man bei Transhumanismus an die Sekte der Raelianer denken, die im vergangenen Jahr die Geburt eines geklonten Babys verkündet hat. »Das wäre natürlich sehr unglücklich«, sagt James Hughes, geschäftsführender Direktor der World Transhumanist Association (WTA), und betont: »Mit solchen Sekten haben wir nichts zu tun.« Und tatsächlich macht die »Transvision 2004«, die Jahrestagung der WTA, über weite Strecken den Eindruck einer beliebigen akademischen Veranstaltung. In den Räumen der medizinischen Fakultät tragen Dozenten der verschiedenen Fachrichtungen ihre Spekulationen vor. Wenn man die posthumanen Seinsformen auch noch nicht praktisch testen kann, so doch in der Fantasie.

»Humanize Transhumanism«

So nimmt sich Robin Hanson der »Zukunft der Debatte« an. Der Ökonomielehrer an der George Mason University ist ganz begeistert, dass ein Posthumaner dem vereinfachten Bild des Menschen entspricht, das sich seine Zunft für ihre mikroökonomischen Modelle zurechtgelegt hat: immer rational handelnd und unsterblich. Das stellt ihn freilich vor die Frage, ob es unter Posthumanen überhaupt noch etwas zu debattieren gibt, weil ohnehin alle zur gleichen optimalen Meinung gelangen. Oder würde der Posthumane zu seinem Vorteil perfekt lügen? Schließlich ließen sich die Gesichtsmuskeln endlich willentlich steuern, und so würden keine verräterischen Zuckungen mehr übers Gesicht huschen. Andererseits: Wenn es die Möglichkeit des Gedankenlesens gibt, könnte sich jeder verdächtig machen, der dem Gegenüber keinen Zugang zu seinen Hirnwindungen erlaubt.

Die Verheißungen zukünftiger Technik waren dem Publikum geläufig, und so konnte die Diskussion möglicher Gefahren einen breiten Raum einnehmen, schon um Kritikern, Technikfeinden und »Biokonservativen« zuvorzukommen. Manches Problem freilich, das eingefleischte Transhumanisten stark bewegt, scheint für den Normalmenschen etwas aus der Luft gegriffen. Wie schützen wir etwa das intelligente Leben auf der Erde vor Asteroideneinschlägen? Oder was für Probleme kommen auf eine Demokratie zu, in der mit menschlichen Genen aufgerüstete Schimpansen und intelligente Roboter Bürgerrechte einfordern?

Und wie kann man die Sicherheit von Gentherapien testen, ohne den Fortschritt aufzuhalten? Heutige klinische Tests müssten hier mindestens über zwei Generationen gehen, schließlich könnten viele Nebenwirkungen erst bei der Vererbung der veränderten Gene auftreten. So lange will hier freilich niemand auf die Segnungen dieser Technik warten.

WTA-Direktor James Hughes, im Hauptberuf Hochschullehrer für Gesundheitspolitik und Bioethik in Conneticut, denkt viel über solche Fragen nach. Er vertritt eine fast sozialistische Variante des Transhumanismus. Jeder müsse die Chance haben, sich in ein posthumanes Wesen zu transformieren. Zu seinen Forderungen gehört die Bezahlung von Leistung steigernden, Leben verlängernden Behandlungen durch ein öffentliches Gesundheitssystem und Technologietransfer in die dritte Welt.

»Humanize Transhumanism« nennt er sein Vorgehen. Hughes verfolgt dabei auch ein ganz persönliches Anliegen. Er möchte seine Frau, die zum ersten Mal eine Transvision besucht, überzeugen, sich nach ihrem Tod tiefkühlen zu lassen. Ohne sie möchte auch er keinen entsprechenden Vertrag unterzeichnen.

Um Frau Hughes und andere widerstrebende Noch-Menschen von ihren lauteren Absichten zu überzeugen, sprechen die Propheten aber nicht nur von möglichen Risiken der gepriesenen Technologien. Zum Auftakt der Konferenz hatten sich die Veranstalter dieses Jahr sogar vorgenommen, einen Dialog mit der Religion zu beginnen. Eine strategisch wichtige Frage, wie Hughes erklärt. Schließlich komme der größte Widerstand, etwa gegen die Stammzellenforschung, aus dem christlichen Lager.

Für das Symposium »Glaube, Transhumanismus und Hoffnung« fand sich tatsächlich ein transhumanistischer Katholik. Tihamer Toth-Fejel durfte im Trinity College der University Toronto seine eigenwillige Version der Trinitätslehre vorstellen. Die Titelfrage seines Referats: »Ist ein katholischer Transhumanismus möglich?« beantwortet er mit einem eingeschränkten »Ja«. Einen Bestand an unbeweisbaren Glaubenssätzen habe jeder, schon weil unsere Zeit und Fähigkeiten nicht ausreichten, alles zu beweisen. Die katholische Religion gebe der Vernunft den Vorzug vor blindem Glauben. Und Gott gebe dem Menschen geradezu den Auftrag, sich als Mitschöpfer zu betätigen. Lediglich mit der Verwertung embryonaler Stammzellen hat Toth-Fejel ein Problem – aber wozu gibt es adulte Stammzellen?

Gegen die Weiterentwicklung der menschlichen Fähigkeiten durch Technik oder gegen eine radikale Lebensverlängerung hat er nichts einzuwenden. Beispielsweise sei eine technische oder genetische Weiterentwicklung des menschlichen Auges zum Nachtsichtgerät eine feine Sache. Es komme lediglich darauf an, nicht auf diejenigen herabzuschauen, die immer noch Brillen tragen. »Wir müssen nicht nur die Fähigkeiten der Leute verbessern, sondern auch ihren Charakter.« Gott stehe für die Prinzipien Sein, Liebe und Wahrheit. Folglich gelte es, das Leben (Sein) mit den Mitteln der Wissenschaft (Wahrheit) möglichst in die Länge zu ziehen und mit Liebe zu erfüllen.

Wie seine theologisch-philosophischen Ausführungen so scheint auch Toth-Fejels Lebenslauf eine Vereinigung von Gegensätzen. Er war US-Meister im Ringen und Mitglied der Olympiamannschaft, ist ausgebildeter Elektroingenieur, lehrt zum Verhältnis von Technologie und Ethik an der Universität Notre Dame in Indiana und erforscht für die Nasa die Möglichkeit sich selbst replizierender Nanomaschinen.

Das Altern heilen

Vielleicht gibt ein solcher Lebenslauf aber auch nur einen leichten Vorgeschmack auf das Leben unserer Nachfolger in der Evolution: Die Eltern entscheiden sich beim Genscreening für einen Embryo mit den Anlagen eines Spitzensportlers. Wird es mit hoch entwickelten Präparaten gedopt, steht nie da gewesenen Spitzenleistungen nichts im Weg. Nach sagen wir 30 Jahren wird das Sportlerleben zu langweilig, und man entscheidet sich für eine wissenschaftliche Karriere, der Speicher des Gehirns wird durch Implantate aufgerüstet und der Motivationshaushalt mit einer Hormonbehandlung auf Wahrheitssuche umgestellt. Im Zeitalter der Langlebigkeit bieten 100jährige Forschungsprojekte ungeahnte Herausforderungen. Doch auch die spannendste Forschungstätigkeit verliert auf die Dauer ihren Reiz, und die Ausrichtung des Charakters auf Rationalität verhindert spirituelle Erfahrungen. Warum sich nicht als posthumaner Mystiker versuchen? Eine Stammzellentherapie erweitert das Hirnzentrum für religiöse Erlebnisse, dazu einige stimulierende pharmazeutische Produkte, und im Menschenzeitalter nicht für möglich gehaltene Meditationserlebnisse werden möglich.

Ein solcher Lebenslauf ist für einen Transhumanisten vielleicht etwas holzschnittartig, aber nicht grundsätzlich übertrieben. So stellte WTA-Direktor Hughes, der auch schon mal buddhistischer Mönch war, auf der Konferenz seine Vision eines pharmazeutischen Buddhismus vor. Vielleicht könnten die Tugenden, die der Buddhismus durch Meditation erreichen will, durch entsprechende Medikation oder Gentherapien effektiver und müheloser zugänglich werden, so sein Gedanke. Entsprechende Ansätze gebe es ja bereits, etwa bei der Behandlung von Depressiven mit Psychopharmaka oder von Sexualstraftätern mit Testosteronblockern. Warum sollten solche die Persönlichkeit verändernden Behandlungen nur in Extremfällen eingesetzt werden, fragt sich Hughes. Zumal in Zukunft diese Medikamente sicherlich immer zielgenauer werden würden und die Forschung die Nebenwirkungen in den Griff bekommen werde.

Spirituelle Erlebnisse hätten demnach ihren Platz unter vielen Bedürfnisbefriedigungen, die mit der richtigen Technik perfektioniert werden können. Offenbar entwickelt das menschliche Gehirn eine mehr oder weniger starke Empfänglichkeit für religiöse Erfahrungen. Warum also nicht Mittel entwickeln, um dieses Bedürfnis bewusst und leicht zu stillen? Die Erleuchtung aus der Apotheke.

Auch hier können die Transhumanisten an aktuelle Forschungen anknüpfen. So genannte Neurotheologen suchen seit einigen Jahren nach dem Sitz des religiösen Empfindens im Hirn und haben schon herausgefunden, dass bei spirituellen Erfahrungen der linke Schläfenlappen besonders aktiv ist. Dieser Hirnbereich wurde daraufhin »Gottesmodul« getauft.

Wirkliche Begeisterung mag die Rede von Risiken, spirituellen Erfahrungen und Tugenden bei den meisten der gut 100 nach Toronto gereisten Transhumanisten nicht wecken. Es sind fast ausschließlich Männer, meist mit naturwissenschaftlicher oder technischer Ausbildung. »Mit Religion hab’ ich gar nichts am Hut!«, betont der 30jährige Programmierer Ivan Phillips aus Chicago. Nur seine Mutter sah das anders: »Don’t join the cult«, warnte sie vor der Abreise, nachdem sie die Ankündigung für die Transvision 2004 gelesen hatte.

Auch der Deutsche Thorsten Nahm nimmt den Dialog mit der Religion und die ausführliche Beschäftigung mit Risiken eher widerwillig hin. »Sicher geht es darum, die Bewegung zu verbreitern«, meint der aus Bonn angereiste Mathematikstudent und Vertreter der deutschen Sektion der WTA. »Aber im Grunde sind wir mehr Geeks, die sich für die Technik begeistern.« Ihn fasziniert zum Beispiel die Vorstellung, dereinst zu anderen Planetensystemen aufbrechen zu können. Die radikale Lebensverlängerung soll’s möglich machen.

Ganz nach Nahms Geschmack war da der Vortrag des Biogerontologen an der Universität Cambridge, Aubrey de Grey. Er ging die neuesten Ergebnisse der Altersforschung durch. Und siehe da, es gibt Hoffnung. De Grey – sein langes ergrauendes Haar ist zum Pferdeschwanz gebunden, sein Bart reicht ihm bis zum Bauchnabel – ist um wissenschaftliche Diktion bemüht, doch bei aller Vorsicht wagt er eine Prophezeiung: »Die Chancen stehen 50 zu 50, dass wir in 25 Jahren das Altern heilen können.« Ein Aufatmen geht durch die Reihen.

Am nächsten Morgen spricht Max More. Auch den durchtrainierten 40jährigen Chefphilosophen des Transhumanismus beschäftigt das Akzeptanzproblem seiner Bewegung. Seine Diagnose: Gegen die technische Verbesserung des Menschen sprechen keine rationalen Argumente. Doch die Menschen halten an ihrer stark verbesserungsbedürftigen Biologie fest. Warum? Sie fühlen sich in ihrer Identität angegriffen. »Es ist, als würden sie trotzig sagen: Ich bin weiß und bleibe weiß! Ich bin hetero und bleibe hetero! Ich bin Mensch und bleibe Mensch!« Er beruft sich auf psychologische Literatur und nennt dieses Phänomen »die Zähigkeit identitätsbasierter Urteile«.

Aber warum sich mit den Widerständen befassen? Schließlich werden die technischen Möglichkeiten sowieso kommen. Warum die Anstrengung, verstockten Menschen die ungeheuren Möglichkeiten einer posthumanen Zukunft nahe zu bringen? Es ist die Angst, Technikfeinde könnten die Entwicklung gefährlich verzögern. Und so beendet Max More seinen Vortrag mit dem Satz: »Wenn wir den Prozess nicht beschleunigen, dann sind wir alle tot!«

Doch im Publikum weiß man natürlich für diesen Fall Rat. »Wie viele haben schon einen Kryonik-Vertrag?«, fragt ein Mittfünfziger in den Saal. 15 Hände gehen hoch, die Armkettchen rutschen auf den Unterarm, darauf eingraviert die Nummer des Kryonikunternehmens, das im Fall eines unerwarteten Ablebens sofort zu informieren ist. »Und wie viele denken ernsthaft darüber nach, sich tiefkühlen zu lassen?« Die restlichen 70 melden sich. »Was zögert ihr? Wendet euch an diesen Mann!« Rudi Hoffmann steht auf und winkt mit Vertragsformularen. Auf sein Polohemd ist aufgestickt: »Cryonics Insurance Specialist.«