Zusammen beten

In den palästinensischen Flüchtlingslagern im Libanon ist von Hysterie wegen Arafats Ableben nichts zu spüren. Aus Shatila berichtet alfred hackensberger

Mit dem Sammeltaxi braucht man gut 20 Minuten vom Zentrum Beiruts nach Sabra und Shatila, den beiden palästinensischen Flüchtlingslagern im Libanon, die seit dem Massaker von 1982, in das Ariel Sharon persönlich verwickelt war, weltbekannt sind. In Sabra und Shatila scheint dieser Tage alles normal. Es sind zwar mehr Menschen auf den Straßen, aber das liegt am Ramadan, an dem mehr und besser eingekauft wird als sonst.

Von Trauer oder Unruhe über den Gesundheitszustand Yassir Arafats ist nichts zu spüren. Keine Poster, keine Fahnen, keine Musik. »Wenn er stirbt«, meint Abu Muschahed, ein alter Kader der PLO, der heute in Shatila ein Jugendzentrum leitet, »dann wird es wohl einen Trauermarsch geben, aber das war es dann auch schon.« Seine Politik habe man in den beiden Lagern nie so richtig gemocht. »Ein ganzes Leben lang war Arafat Führer, Präsident«, sagt Abu Muschahed. »Mit Demokratie hatte das wenig zu tun.« Aber wenn die Menschen tot sind, spielten Meinungsverschiedenheiten keine Rolle mehr.

Die Millionen von Dollar, die bei den Behörden in den palästinensischen Gebieten über viele Jahre veruntreut wurden, hätte man in Sabra und Shatila gut gebrauchen können. In den beiden Lagern gibt es selten Elektrizität und Wasser, die Straßen sind ungeteert, Familien leben auf wenigen Quadratmetern. »Hier ist nie ein Cent an Hilfe aus Palästina angekommen«, sagt Abu Muschahed bitter lächelnd.

Etwa 350 000 Flüchtlinge leben im Libanon, in einem Gastland, das jegliche Integration verwehrt. Palästinenser dürfen nicht arbeiten, ihren Wohnort nicht frei wählen und sich auch nur eingeschränkt im Land bewegen. »Es gibt im Libanon mehr Palästinenser als zum Beispiel Drusen«, erklärt Abu Muschahed aufgebracht, »dennoch besitzen wir keinerlei Rechte. Wir werden nicht wie Menschen zweiter, sondern dritter Klasse behandelt.« Tatsächlich sind die Lebensbedingungen der Palästinenser in den libanesischen Lagern im Vergleich zu anderen in Jordanien, Syrien oder auch in Gaza am schlimmsten. Ohne die Unterstützung der UN und vieler anderer, meist europäischer Organisationen, wäre das Leben dort völlig katastrophal.

So ruhig und ungerührt wie in Sabra und Shatila geht es in den anderen Flüchtlingslagern nicht zu. Dort wird auf der Straße Radio gehört oder beim Friseur gemeinsam Fernsehen geschaut. In Raschidieh bepflasterte man das Camp mit Postern Arafats und übertrug seine Reden über Lautsprecher auf die Straßen. Das große Thema: Die Flüchtlinge sollten auch weiterhin auf ihr Recht zur Rückkehr pochen, um einmal in der Al-Aqsa-Moschee beten zu können. In Ain al-Hilweh, ein im Süden des Libanons gelegenes Camp, in dem alle palästinensischen Gruppen ihre Büros haben, wurde gemeinsam für Yassir Arafat gebetet. Normalerweise kommt es hier sonst regelmäßig zu Auseinandersetzungen zwischen Fatah-Mitgliedern und islamistischen Militanten, bei denen geschossen wird. Auch im Lager Mieh Mieh erbaten militante Gruppen die Gnade Gottes für den palästinensischen Präsidenten.

Abu Muschahed aus Shatila kann darüber nur müde lächeln. Der graumelierte Endfünfziger, der in den siebziger Jahren vier Jahre auf Kuba studierte, ist seinen sozialistischen Gedanken treu geblieben. »Ich habe keinen Vertrag mit Gott abgeschlossen, wie so viele andere in den letzten Jahren«, sagt er. Für Arafat zu beten, der Jahrzehnte mit dem Islam nichts zu tun hatte und erklärter Atheist war, sei grotesk. Am Ende werde aus dem Revolutionär ein politisch-religiöser Führer gemacht. Noch kurz vor seiner Reise nach Frankreich ließ Arafats Entourage verlautbaren, dass der Präsident seit Beginn des Ramadans täglich fleißig gefastet habe. Im Ramadan werden alle Sünden vergeben, wenn man alle Regeln befolgt, und so kommt man ins Paradies.