»Die Opferrolle lehnen wir ab«

Ein schriftlich geführtes Interview mit französischen Kritikern des Islamismus

Der Gewerkschafter Tewfik Allal und die Lehrerin Brigitte Bardet-Allal gehören zu den Initiatoren des »Manifests für Freiheiten«. Mit ihrer am 16. Februar 2004 in der französischen Zeitung Libération veröffentlichten Erklärung wenden sich die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner gegen »Sexismus, Homophobie und Antisemitismus«, die von Organisationen und Anhängern des Islamismus in islamischen Ländern, aber auch in Europa, propagiert werden.

Mit Ihrer Initiative »Manifest der Freiheiten« protestieren Sie unter anderem gegen den Sexismus, der von islamistischen Organisationen vertreten wird. Der Mord an dem niederländischen Filmemacher Theo van Gogh wurde in der Öffentlichkeit mit dessen Kritik an der Behandlung von Frauen in Somalia erklärt. Welche Rolle spielt die Diskriminierung der Frau in der islamistischen Ideologie?

Der Aufstieg des politischen Islam war stets begleitet von Serien der Gewalt gegen Frauen. Erinnern wir uns an die Reden des Imam Ali Benhadj, die er in den neunziger Jahren in Algerien auf Treffen islamistischer Gruppen und in Moscheen hielt: »Heutzutage töten die Frauen nicht mehr, heute nehmen sie die Pille. Das gibt es umsonst. Heute können sie Geschlechtsverkehr haben, mit wem sie wollen.« In Frankreich sind die Diskurse eines Tariq Ramadan mittlerweile etwas »gemäßigter«. Ramadan gibt sich laizistisch, weigert sich aber in Fernsehsendungen, Steinigungen von Frauen wegen des Vorwurfs des Ehebruchs zu verurteilen. In seiner modernen Sprache teilt Ramadan das Ziel verschiedener islamistischer Strömungen: zur Bewahrung der göttlichen Ordnung die Sexualität der Frau unter Kontrolle zu bringen. Das Kopftuch zum Beispiel ist Instrument und Symbol dieser Bemühungen.

Diese Ordnung, die sich in religiösen Regeln und Gesetzen niederschlägt, bedeutet die Ungleichheit der Geschlechter. Die so genannten aufgeklärten Islamisten rechtfertigen diese Ungleichheit, indem sie die »Harmonie zwischen zwei sich gegenseitig vervollkommnenden Geschlechtern« anpreisen. Aus dieser Vorstellung leitet sich die Betonung der Gleichwertigkeit von Mann und Frau ab, die an die Stelle von Gleichheit tritt. Gleichheit hingegen wird als »okzidentalischer« Wert kritisiert. Wir haben es mit einer Form des Islamismus zu tun, der sich als Verteidiger der Würde von diskriminierten Menschen ausgibt, um seine eigenen Ziele zu verfolgen. Mit dieser Wendung kann jede Kritik am islamistischen Projekt als islamophob zurückgewiesen werden. Hier entspringt die Gewalt, die sich gegen jede Person richtet, die die »göttliche Ordnung« hinterfragt. Diese Gewalt geht bis zum Mord, und Theo van Gogh ist nur ihr jüngstes Opfer.

Einer kürzlich veröffentlichten Studie des Bundesfamilienministeriums zufolge haben 40 Prozent der Frauen in Deutschland Erfahrungen mit männlicher Gewalt gemacht. Angesichts der jüngsten Vatikanischen Erklärung zur Position der Frau in der Gesellschaft verglich eine jordanische Schriftstellerin den Vatikan mit dem Regime der Taliban. Sehen Sie einen grundsätzlichen Unterschied zwischen der Situation der Frau in europäischen und in islamischen Gesellschaften?

Das Problem besteht darin, dass Feministinnen, die die Gewalt gegen Frauen in islamischen Ländern kritisieren, vorgehalten wird, sie seien ethnozentrisch. Ihnen wird vorgeworfen, mit dieser Kritik eine Auseinandersetzung über die Gewalt gegen Frauen im Westen zu verhindern. Dieser Vorwurf ist unzutreffend. Diese Frauen kritisieren und bekämpfen die Gewalt hier wie dort. Sie verbinden den Kampf der Frauen in den islamischen Ländern mit jenem in Europa.

Es ist Ausdruck eines neokolonialen Denkens, wenn man die unterschiedlichen muslimischen Kulturen auf den Koran reduziert und annimmt, die muslimischen Frauen seien eine homogene Gruppe. Es wäre falsch, die Widersprüche, die es hier wie dort gibt, nicht wahrzunehmen. Die Gewalt gegen Frauen ist nicht im Kern islamisch. Sie ist leider universell, aber in manchen Ländern gibt es in der Gesetzgebung bereits fortschrittliche Regelungen, die in anderen Ländern fehlen. In Europa werden Frauen für Ehebruch eben nicht gesteinigt, auch wenn die Ehemänner ihre Frauen weiterhin schlagen.

In der Vorbereitung des Krieges gegen das Taliban-Regime wurde die Situation der afghanischen Frauen als Argument bemüht, den Angriff zu rechtfertigen. Die Kritik am »islamischen Patriarchat« dient in Deutschland wie in Frankreich immer wieder als Deckmantel für rassistische Politik. Wie grenzen Sie Ihre Kritik gegenüber einer solchen Instrumentalisierung ab?

Die Tatsache, dass Afghanistan militärisch angegriffen wurde, hindert uns nicht im geringsten daran, die Maßnahmen der Taliban gegenüber den Frauen zu verurteilen: das Verschwinden der Frau aus dem öffentlichen Raum, der Ausschluss vom Mädchen aus den Schulen, die unannehmbaren Repressalien. Unsere antirassistische Überzeugung schließt es überhaupt nicht aus, Sexismus, wo immer er auftritt, zu verurteilen. Wir lehnen jede Hierarchisierung der Kämpfe gegen verschiedene Unterdrückungsformen ab. Schließlich gehören wir und unsere Kinder zu den ersten, die Rassismus und Diskriminierungen ausgesetzt sind. Die beste Art, hierauf zu reagieren, scheint es uns jedoch nicht, die Opferrolle zu übernehmen und uns mit unserer Wut auf eine falsche Identität zurückzuziehen. Stattdessen antworten wir mit dem Bekenntnis zu bestimmten Prinzipien, die es zu verteidigen gilt. Auf der Grundlage dieser Prinzipien lässt sich der Rassismus identifizieren, der sich bisweilen hinter einer Kritik am »islamischen Patriarchat« verstecken mag, und so lässt er sich bekämpfen.

Sie unterstützen die aktuelle Petition von arabischen und muslimischen Intellektuellen, mit der die Einrichtung eines internationalen Tribunals der UN für Imame und Religionsgelehrte gefordert wird, die durch religiöse Gutachten den Terror gegen »Ungläubige« und »Abtrünnige« fördern. Welche Rolle spielen diese Gelehrten in der islamischen Öffentlichkeit, hier wie im Nahen Osten?

Diese Petition ist aus verschiedenen Gründen wichtig. Sie appelliert an internationale Instanzen, und ihre Unterzeichner handeln, etwas pathetisch formuliert, als Weltbürger. Zudem kritisiert sie die bestehenden juristischen und politischen Institutionen, die nicht in der Lage sind, gegen die Anwälte des Terrorismus in den islamischen Ländern vorzugehen. Die Petition benennt ausdrücklich die Personen, die zum Terrorismus aufrufen, und nicht allein diejenigen, die den Terror ausführen. Diese Imame und Gelehrten scheinen uns für die islamistische Radikalisierung hier in Europa wie in den islamischen Ländern wesentlich verantwortlich zu sein. Wichtig ist auch, dass die Petition gewissermaßen vor der eigenen Haustür anfängt. So, wie wir es mit unserem »Manifest der Freiheiten« auch getan haben.

interview: götz nordbruch