Ein System von Einzelfällen

Zwölf Stunden schuften ohne Pause und ein System der Angst. Ein Schwarzbuch macht auf die skandalösen Arbeitsbedingungen beim Discounter Lidl aufmerksam. von thorsten fuchshuber

In Zukunft wird sich Lidl der Öffentlichkeit nicht mehr ohne Weiteres entziehen können«, sagte Werner Wild, stellvertretender Vorsitzender von Verdi in Baden-Württemberg, am Rande der Pressekonferenz, auf der das »Schwarzbuch Lidl« vorgestellt wurde. Seit Jahren ist seine Organisation bemüht, die meist katastrophalen Arbeitsbedingungen bei Discount-Ladenketten publik zu machen. Den ersten Platz nimmt dabei die Firma Lidl ein. An drastischen Beispielen für die Praktiken des Unternehmens mangelt es nicht. Doch die Geschäftsführer der Schwarz-Gruppe, zu der Lidl gehört, haben bislang jede Kritik einfach ignoriert.

Das hat sich seit der vergangenen Woche geändert. Nach der Veröffentlichung des »Schwarzbuchs Lidl« am vergangenen Freitag, in dem die Verdi-Recherchen der vergangenen Jahre gesammelt sind, und vor allem nach dem großen Medienecho sah man sich am Firmensitz im baden-württembergischen Neckarsulm schließlich doch zu einer Reaktion gezwungen: »Wir empfinden dies als ausgesprochene Diskriminierung und als Diffamierungskampagne«, lässt sich einer Pressemitteilung des Unternehmens entnehmen. Mit 20 000 Arbeitsplätzen, die man hierzulande in den letzten drei Jahren geschaffen habe, sei man »die Nummer eins« in der Republik. Dies erreiche man nur mit zufriedenen und motivierten Mitarbeitern.

Die Zeugnisse der Angestellten vermitteln einen anderen Eindruck. Arbeitszeiten bis zwölf Stunden am Tag, oftmals ohne Mittagspause, sind keine Seltenheit. Unbezahlte Überstunden werden als »freiwillige Vor- und Nacharbeiten« deklariert. So beginnt die Frühschicht für viele bereits um sechs Uhr – bezahlt wird erst ab acht. Taschenkontrollen sind an der Tagesordnung, und auch Videoüberwachung sowie die Durchsuchung von Spinden und Privatautos der MitarbeiterInnen gehören bei Lidl zum Alltag.

Klaus Gehrig, der seit März die Geschäfte der Schwarz-Gruppe führt, entschuldigte sich im ZDF-Magazin »frontal 21« für »Einzelfälle«. Und Kontrollen, so die Unternehmensleitung, »werden von allen Handelsunternehmen praktiziert«. Agnes Schreieder, Gewerkschaftssekretärin bei Verdi in Berlin, spricht dagegen vom »System Lidl«. »Es ist darauf aufgebaut, bei den Angestellten gezielt Angst zu schüren. Durch gnadenlose Arbeitshetze werden Leute zu Leistungen gebracht, die Lidl den Vorteil bringen, über die Ausbeutung dieser Arbeitsleistung ein aggressives Expansionstempo vorlegen zu können. Dieses wird von keinem Unternehmen der Republik eingeholt.«

Die Schwarz-Gruppe, benannt nach dem Firmengründer Dieter Schwarz, tritt in 18 europäischen Ländern auf. Seit 1990 hat sich der Jahresgesamtumsatz des Unternehmens von 2,6 auf 36 Milliarden Euro erhöht. Neben den SB-Warenhäusern Kaufland und Handelshof stellt Lidl den Motor dieser Expansion dar. Allein im vergangenen Jahr eröffnete die Kette 442 neue Läden. Betriebsräte gibt es zwar in allen personalstarken Warenlagern, aber nur in sieben Filialen.

»Kein anderes Unternehmen in dieser Republik schaltet so gezielt und radikal betriebliche Mitbestimmung aus wie der Konzern Schwarz. Allein die drei Bereiche Lidl, Kaufland, Handelshof und alles, was dazu gehört, Immobilien und so weiter, sind in über 600 Unternehmenskonstrukte aufgeteilt«, sagt Agnes Schreieder. So soll die Gründung von Betriebsräten erschwert werden. Denn eine Lidl-Filiale hat maximal zwölf Beschäftigte, so dass ein Betriebsrat ohnehin nur aus einer Person bestehen würde.

Auf der Basis des neuen Betriebsverfassungsgesetzes versuchten die Gewerkschafter deshalb vor zwei Jahren in Unna, etwa 120 Filialen an den Betriebsrat des dortigen Zentrallagers anzuschließen. Kurzerhand trennte der Konzern darauf Filialen und Lager in zwei Firmen mit eigenen Geschäftsführern auf.

Oftmals saßen vor Beginn von Gründungsversammlungen bereits mehrere Lidl-Manager im Veranstaltungsraum. Die organisierungswilligen Angestellten machten auf dem Absatz kehrt. Wenn gewerkschaftliche Aktivitäten einzelner MitarbeiterInnen bekannt werden, beginnt dem Schwarzbuch zufolge meistens knallhartes Mobbing: Angestellte werden des Diebstahls oder anderer Verfehlungen beschuldigt und teils stundenlang von mehreren Vertriebsleitern ins »Kreuzverhör« genommen, bis sie schließlich einen Aufhebungsvertrag unterschreiben, was dem Konzern die Kündigung erspart. Das gleiche Schicksal trifft häufig auch langjährige MitarbeiterInnen, die bei Weiterbeschäftigung in eine höhere Gehaltsgruppe aufsteigen würden.

»Die werfen Leute raus, das können Sie sich gar nicht vorstellen. Schon beim geringsten Anlass«, erinnerte sich Gabriele Henske-Kunz, bis vor kurzem Personalsachbearbeiterin bei Kaufland in Stuttgart, auf der Verdi-Pressekonferenz. Sie wurde entlassen, weil sie an einer Betriebsratswahl mitgewirkt hat. »Der Verkaufsleiter hat zu mir gesagt: Wir kriegen Sie raus, verlassen Sie sich darauf!«

»Unter den Verkaufsleitern, die mehrere Filialen betreuen, findet ein regelrechter Wettbewerb statt: Wie viel Abmahnungen kann ich schreiben, wie viele Leute kann ich feuern? Dann sind sie angesehener«, berichtet Marcus Jacobi, unlängst noch Filialleiter bei Lidl. Nun wurde er selbst nach einem bei der Arbeit zugezogenen Bandscheibenvorfall am Ende der Probezeit entlassen. Werner Wild bestätigt: »Von den leitenden Angestellten wird erwartet, dass sie mindestens 55 Stunden in der Woche arbeiten, ihnen wird absolute Loyalität abverlangt. Da spüren die ganz schnell: Wer sich nicht an dieses System hält, der ist schneller draußen, als er gucken kann.«

Agnes Schreieder weist in diesem Zusammenhang auch auf die hohe Fluktuation unter den Verkaufsleitern hin, die oft »frisch von der Hochschule angeworben werden«. Es handle sich um junge Leute, die mit hohem Einstiegsgehalt und Firmenwagen geködert würden.

Verdi, so Werner Wild, werde jedenfalls weiter versuchen, gezielt Mitglieder bei Lidl zu organisieren und Betriebsratswahlen einzuleiten, auch wenn der Gewerkschaftssekretär Christian Paulowitsch eingestehen muss: »Wir kommen im Moment nicht weiter.« Übergeordnetes Ziel ist es Schreieder zufolge, »mit Lidl eine Regelung darüber zu treffen, dass es filialübergreifende Betriebsräte gibt, weil jede einzelne Filiale ja nur begrenzte Mitbestimmungsrechte hätte«.

Außerdem sei man über den Dachverband »Uni« dabei, sich europaweit zu vernetzen. Denn Lidl müsse sich bei seiner Expansion in Europa den unterschiedlichen Bedingungen anpassen. Und da »beispielsweise in Schweden 80 Prozent der Handelsbeschäftigten gewerkschaftlich organisiert sind«, so Paulowitsch, sei Lidl dort auf die Gewerkschafter zugegangen.

Davon, so scheint es, ist Lidl in Deutschland jedoch noch weit entfernt. »Die Kampagne«, höhnte das Unternehmen Ende voriger Woche, sei »Ausdruck für das Dilemma der Gewerkschaft, dass sie bei den wachstumsstarken Discountern unter den Beschäftigten kaum auf Zuspruch stößt«.