Die fetten Jahre sind vorbei

Verbraucherschutzministerin Renate Künast hat sich dem Kampf gegen die Dicken verschrieben. Fit und schlank soll der deutsche Volkskörper den sozialen Abstieg meistern. von sarah korn

Nun wissen wir es: Nicht Massenarbeitslosigkeit, Hassprediger oder das Waldsterben sind die größten Bedrohungen für Deutschland, sondern die Kinder in diesem Land. Die wenigen, die unsere Renten sichern sollen, gehören nicht nur zu den dümmsten in der Welt, wie die Pisa-Studien belegen, sondern sie sind vor allem zu dick. Sie belasten die Wirtschaft und die Krankenkassen und futtern all die Energien weg, die wir jetzt so dringend bräuchten, um die Krise zu meistern.

Das Übergewicht bei Kindern sei ein »zunehmendes Problem in unserem Land«, heißt es auf der Website des Bundesministeriums für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft. Statistiken zeichnen ein düsteres Bild des Volkskörpers: Bis zu 20 Prozent aller Kinder und Jugendlichen, 65 Prozent der Männer und 55 Prozent der Frauen werden als übergewichtig eingestuft. Mit den vielen Dicken kommen, Renate Künast zufolge, auch gewichtige Probleme auf uns zu. Ergreifen wir nicht umgehend gemeinsam die Initiative, werden die Kosten der Krankenkassen »explodieren«, prophezeit die grüne Verbraucherschutzministerin.

Die Deutschen sind neben den Briten die dicksten Europäer. Sie essen zu viel, zu süß und zu fett. Das ist Künasts Resümee zum Ernährungsbericht 2004, den die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) am 9. Dezember vorlegte. Renate Künast, die sich in ihrer Freizeit gerne mit den wenig asketischen europäischen Königshäusern beschäftigt, hat sich deshalb des Krieges gegen die vorgeblich dramatische Verfettung der deutschen Bevölkerung, insbesondere des deutschen Nachwuchses, persönlich angenommen. »Eine starke und gesunde erste Generation im 21. Jahrhundert, das ist unser Ziel«, erklärte sie auf dem Gründungskongress der »Plattform Ernährung und Bewegung« Ende September in Berlin. Versammelt sind hier von Vertretern der Lebensmittelwirtschaft über Eltern, Lehrer und Ärzte bis zu den Krankenkassen erstmals all jene, denen die Körperfettreduktion der kleinen Volksgesundheitsfeinde am Herzen liegt.

Zwar kommt eine Untersuchung der Kasseler Beratungsstelle für Essstörungen (Kabera) aus dem Jahr 2003 zu dem Schluss, dass sich 41 Prozent der Mädchen und 29 Prozent der Jungen zu dick fühlen, obwohl sie normal- oder untergewichtig seien. Doch davon lässt sich die Verbraucherschutzministerin nicht beirren: Schlank und fit für den Neoliberalismus, lautet ihre Devise. »Nie war der Appell richtiger und wichtiger, die Deutschen sollten den Gürtel etwas enger schnallen«, stimmt sie in die Reformrhetorik ihrer Kollegen aus den Ministerien für Wirtschaft und Arbeit sowie Finanzen mit ein.

Während der Irakkrieg, islamistische Parallelgesellschaften und der drohende Niedergang der deutschen Mittelschicht in diesem Jahr die Gemüter bewegten, startete die deutsche Jane Fonda nahezu unbemerkt von der Öffentlichkeit ihren Feldzug gegen Kohlehydrate, Fette und überflüssige Pfunde. Mit schweren Geschützen soll den Molligen zu Leibe gerückt werden. Die »Plattform für Bewegung und Ernährung« müsse »dicke Bretter bohren und damit der gesellschaftlichen Debatte mit geeinter Kraft Auftrieb und Richtung geben«, appellierte Künast an die bürgerliche Kampftruppe.

Ebenfalls im September erschien ihr Buch zum Thema Ernährung, das den Titel »Die Dickmacher« trägt. Das Cover zeigt eine sonnenumflutete Verbraucherschutzministerin mit mahnendem Blick und erhobenem Zeigefinger. Der Duktus des Buches changiert zwischen religiösem Kitsch und sozialdarwinistischem Zynismus: »Wir verzehren nicht nur totes Fleisch oder abgeschnittenes Grünzeug, sondern etwas, das Gott hat wachsen lassen«, predigt die Zimmerpflanzenliebhaberin. Der Hunger sei es gewesen, der »die Weltgeschichte vorantrieb«, der tagtägliche Kampf ums Essen habe als »Katalysator für die Zivilisation« fungiert. Zum Beweis offenbart die Ministerin ihre ganz eigene Interpretation der europäischen Aufklärung: »Motor der Französischen Revolution war weniger die Sorge des Volkes um Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit, sondern schlichte Brotknappheit.«

Der erste Schritt für eine erfolgreiche biopolitische Verschlankung des Staates ist die Gefahrenerkennung. Künasts Buch und der Ernährungsbericht 2004 unterteilen Deutschland in Problemzonen und die Gesellschaft in mehr oder weniger gefährdende Guppen. Besonders gefährlich sind demnach Ostdeutschland und die Ostdeutschen, Arme und Migranten. Wir erfahren, dass »sozial schwache und schlecht gebildete Schichten«, insbesondere aber unsere ostdeutschen Mitbürger/innen mehr saufen, mehr Fleisch, Wurst und Junkfood konsumieren als Reiche, Wessis und Weiße. Was die »dritte Generation eingewanderter Türken« betrifft, glänzt Künast mit kulturessenzialistischen Thesen. Hier sieht sie eine neue Gruppe »ernährungsunkundlicher Analphabeten« heranwachsen, denen es an »kultureller Kompetenz« mangele, sich »gesunde Ernährungsgewohnheiten« anzueignen.

Künasts Fazit lautet: Mehr Bildung und Aufklärung müssen her. Ihr Interesse besteht allerdings weniger darin, Armut und soziale Marginalisierung zu beseitigen. Vielmehr sollen die »sozial Schwachen« und »Bildungsfernen« ihre individuelle Verantwortung für die Volksgesundheit erkennen und lernen, das schmale Budget effektiver im Sinne einer gesunden Ernährung einzusetzen. »Es sind hohe Haushaltskompetenzen notwendig, um mit wenig Geld hochwertig einzukaufen«, bringt Künast ihr Mitgefühl für die Unterschicht zum Ausdruck. Sie schlägt die Bildung von »Kleingruppen« vor, die »gemeinsam einkaufen« und »lernen, mit geringem Einkommen richtig einzukaufen«.

Im vergangenen Sommer war ein Versuch der studierten Juristin, für preiswerte Leckereien wie Currywurst und Pommes den vollen Mehrwertsteuersatz von 16 Prozent zu erheben, an den Protesten der Opposition gescheitert. Auf Lebensmittel wird in Deutschland bislang ein reduzierter Satz von sieben Prozent erhoben. Die CDU warf der Verbraucherministerin vor, eine »Ernährungsdiktatur« anzustreben. Gesine Lötzsch, PDS-Abgeordnete im Bundestag, wies darauf hin, dass gutes Essen teuer sei. Der Sozialhilfesatz reiche nur für 20 Tage gesunde Ernährung im Monat.

Das aber mag Künast nicht gelten lassen. Bereits in der Harald-Schmidt-Show am 11. Dezember 2003 erklärte sie, gesunde Ernährung sei keine Frage des Geldes. Sozialhilfeempfänger/innen könnten sich mit billigem Gemüse der Saison wie etwa Kohl und Steckrüben behelfen, aus denen sich schmack- und nahrhafte Eintöpfe zubereiten ließen. Auch einheimische Gemüsesorten wie der Löwenzahn, die man umsonst auf jeder Wiese sammeln könne, seien völlig in Vergessenheit geraten. Bravo, Frau Künast! Vielleicht sehen wir bereits im kommenden Sommer fröhliche Wandergruppen mit Kind und Kegel beispielsweise ins Berliner Umland marschieren, um Löwenzahn zu rupfen. Denn das Ticket für die S-Bahn können sich ALG II-Bezieher/innen kaum leisten.