Weißes Istanbul

»Uzak« von Nuri Bilge Ceylan

»Als die Riots losgingen und die Leute anfingen, die Geschäfte zu plündern, kam ich nicht schnell genug von der Arbeit los, um zu dem Fotogeschäft zu rennen, auf das ich schon ein Auge geworfen hatte. Als ich da auftauchte, war alles weg. Also ging ich zu ›Boots‹ und steckte einen Haufen Kodacolor-Filme ein. Damit konnte ich nach Indien fahren, wo ich dann jeden Tag ein paar von den Filmrollen an Touristen verkauft und endlich beschlossen habe, Filme zu drehen.« So erzählt Nuri Bilge Ceylan im Guardian von seinen Anfängen 1995. Der türkische Filmemacher lebte damals für eine Zeit in Brixton im Süden Londons. Mittlerweile gehört er bereits zu den wichtigsten Filmemachern seines Landes.

2003 gewann Ceylans letzter Spielfilm »Uzak« (»Weit«) in Cannes den großen Preis der Jury. Die beiden Hauptdarsteller Muzaffer Özdemir und Mehmet Emin Toprak erhielten zudem gemeinsam die Auszeichnung für den besten Darsteller.

Özdemir spielte außerdem in Ceylans ironischem Film »Mayis Sikintisi« (»Bedrängnis im Mai«) einen mittellosen Filmemacher, der zu seinen Eltern fährt, um dort einen Film über sein Herkunftsdorf zu drehen.

In »Uzak« bewegt er sich in der Rolle des Yusuf in Richtung Stadt. Yusuf war Arbeiter in einer Zementfabrik in Yenice und hat während der Wirtschaftskrise im Jahr 2001 seinen Job verloren. Er macht sich auf den Weg nach Istanbul, um auf einem Schiff anzuheuern. Hier überrascht er seinen Verwandten Mahmut, der früher ein engagierter Fotograf war und stets davon träumte, Filme wie Tarkowski zu drehen. Mittlerweile verdient er seinen Lebensunterhalt mit Aufnahmen für Werbekataloge. Mahmut fühlt sich Tag für Tag mehr gestört in seiner vermeintlichen bürgerlichen Idylle zwischen Kleinwagen, Fernsehen, Pornofilmen und Ordnungszwängen. Und Yusuf läuft durch ein weißes und still wirkendes Istanbul zwischen Schiffskörpern hindurch, heuert bei verschiedenen Schiffsagenturen an, folgt ab und zu der Nachbarin und kümmert sich am Telefon um die Zähne seiner Mutter. Und er raucht – die billigen Samsun 216 natürlich.

Ceylan zeigt in »Uzak« nicht mehr das langsame Einbrechen der Moderne in das traditionelle, bäuerliche Leben auf dem Dorf, sondern vielmehr die erdrückenden Entfremdungen in der fast provinziell wirkenden Metropole Istanbul. Und er folgt dem oft sexistischen Blick der einsamen Männer in einer pornografisierten, aber stellenweise traditionell geprägten Welt. Ceylan überfrachtet seine Figuren nicht mit großen Geschichten, sondern vertraut auf seine wunderbaren Laiendarsteller, die mit Gesten und Blicken über ihre Vereinsamung genug sagen. Bilder und Rhythmus erinnern dabei an Kompositionen von Angelopoulos oder Kiarostami, vor allem lässt aber die sehr exakte Tonspur eine Art physisches Kino entstehen, das am ehesten an Bruno Dumont erinnert.

Am Ende sind alle weit, weit weg. Mahmuts geschiedene Frau steigt ins Flugzeug, und Yusuf verlässt die Wohnung. Tragisch, dass die Realität »Uzak« irgendwie eingeholt hat. Der 28jährige Schauspieler Mehmet Emin Toprak starb bei einem Autounfall auf dem Weg von Ankara nach Yenice – nur einen Tag, nachdem »Uzak« für die Filmfestspiele in Cannes nominiert worden war.

niklas luhmann

»Uzak« (Türkei 2002). Regie: Nuri Bilge Ceylan. Kinostart: 3. Februar