Großes leisten

Von »BSHG 19« zum Ein-Euro-Job

Wir waren jung, und wir hatten Großes vor. Da Experten jedoch schon damals der Meinung waren, die Revolution stünde nicht unmittelbar bevor, träumten wir viel und erwarteten wenig.

Mein erklärtes Ziel lautete, möglichst wenig lohnabhängig zu arbeiten. Das wollten wir alle. Ein Job sollte vor allem bald wieder zu Ende sein. Bloß nicht in die Mühle geraten. 40-Stunden-Stellen waren verpönt, eine geradlinige Karriere nicht angestrebt, und mit der freien Wirtschaft wollten wir nicht das Geringste zu tun haben. Also suchten wir unser Glück auf dem zweiten Arbeitsmarkt. Das Zauberwort hieß »BSHG 19« und bedeutete, dass Sozialhilfeberechtigten nach Paragraf 19 des Bundessozialhilfegesetzes »Arbeitsgelegenheiten« zur Verfügung zu stellen seien.

Vor allem waren es die vielen kleinen langweiligen Vereine und Initiativen mit einer wahlweise sozialen, politischen oder kulturellen Mission, die jene Jobs eingerichtet hatten. So machte Jan plötzlich Öffentlichkeitsarbeit für eine Klitsche, die ihn nie interessiert hatte, und ich organisierte einen Kongress zu einem Thema, von dem ich keine Ahnung hatte. Silke, Ralf und Maren gründeten dubiose Vereine, um sich ihnen dann vom Sozialamt als Arbeitskraft zuweisen zu lassen. Es musste offiziell so aussehen, als hätten staatliche Autoritäten ihre Finger im Spiel gehabt. Insgeheim dachte ich mir damals, dass es nicht nur so aussah.

Wir langweilten uns 20 bis 28 Stunden pro Woche in unseren Alternativbiotopen, und nach jeweils einem Jahr verkündete eine nach dem anderen, für eine Weile keinen Finger mehr krumm machen zu wollen. Und später auch nicht; schließlich stand eine zwar sehr bescheidene, aber lebenslange monatliche Rente mit dem Namen Arbeitslosenhilfe in Aussicht.

Tatsächlich konnte niemand den Zustand richtig genießen. Alle wurden über kurz oder lang ungenießbar oder langweilten sich, begannen heimlich in den Stellenanzeigen zu stöbern, lauerten auf spannende Angebote, studierten wieder oder bewarben sich für Promotionsstipendien.

Jetzt sind wir älter und leisten so einiges. Langweilig ist uns nie. Silke und Jan haben unbefristete Vollzeitjobs und kennen die Konferenzsäle in aller Welt. Jeden Tag meistern sie neue Herausforderungen und haben Freude an ihrem Beruf. Manchmal versichern sie etwas schuldbewusst, dass ihr Gehalt auch nicht so üppig sei. Katrin hat beinahe ihren Doktortitel. Mit ihm steigt man immer noch im Ansehen der Leute, besonders als Frau.

Bei Martina, Paul und Maren weiß man nicht genau, was sie treiben. Sie sind »Ich-AGs«. Sie haben keine Chefs, die ihnen reinreden, und flexible Arbeitszeiten, rund um die Uhr. Auch Ralf ist sein eigener Herr, schwört allerdings aufs Überbrückungsgeld. Wer das nicht beantrage, sei ein Trottel, sagt er. Ich genieße es, mich als Scheinselbständige zu outen. Meine Aufträge sind sicher, und doch könnte ich morgen aufhören zu arbeiten, theoretisch.

Inzwischen ist sogar Petra guter Dinge. Bald ist Schluss mit dem Studieren pro forma für den miesen Job im Callcenter und auch mit den unbezahlten Praktika. Ihr Antrag auf Arbeitslosengeld II ist ausgefüllt. Vor den berüchtigten »Maßnahmen« hat sie keine Angst. Sie will ja arbeiten. Bald wird sie eine Ein-Euro-Jobberin.

elvira hieb