Alles andere als unschuldig

Ein Forschungsprogramm hat die Verwicklung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in den Nationalsozialismus untersucht. von oliver walkenhorst

Wie ein »Gewittersturm, der über uns hinwegbraust«, sei die NS-Herrschaft gewesen. »Gegen ein Gewitter anzubrüllen«, habe jedoch keinen Zweck, man müsse warten, bis »das Gewitter vorüber ist«. Diese Äußerungen werden Max Planck zugeschrieben. Sie sind charakteristisch für eine bis heute weit verbreitete Einschätzung, insbesondere auch in Bezug auf die Situation der Wissenschaft im Nationalsozialismus. Dieser Einschätzung nach habe sie es in der damaligen wissenschaftsfeindlichen Zeit sehr schwer gehabt. Der Verlust herausragender jüdischer Wissenschaftler, die erzwungene Isolation von der internationalen scientific community, das polykratische Chaos der staatlichen Wissenschaftspolitik und nicht zuletzt ideologische Vorgaben, die zu abstrusen Auswüchsen wie der Welteislehre und der Deutschen Physik führten, scheinen auch die Wissenschaft auf die Opferrolle festzulegen. Ein kleiner Bereich der medizinischen Wissenschaften sei zudem von der Politik im Dienst der Rassenideologie missbraucht worden, ein noch kleinerer habe perverse Entgrenzungen wie beim SS-Lagerarzt Josef Mengele hervorgebracht. Der Großteil der Wissenschaft sei jedoch unpolitisch und demnach schuldlos gewesen und habe – obgleich stark angeschlagen – trotz widriger Umstände überlebt.

Unter anderem dieser Sichtweise von Wissenschaft im Nationalsozialismus wollte das Forschungsprogramm zur Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG) im Nationalsozialismus auf den Grund gehen. Die KWG war seit ihrer Gründung 1911 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs der bedeutendste außeruniversitäre Forschungsverbund in Deutschland, ihre einzelnen Institute waren vorwiegend naturwissenschaftlich ausgerichtet.

Die etwa 30 Historiker des Forschungsprogramms standen unter Aufsicht einer unabhängigen Historikerkommission, die 1997 von der Max-Planck-Gesellschaft (MPG) mit dem Auftrag zur rückhaltlosen Aufklärung ihrer Vergangenheit eingesetzt wurde. Denn die Max-Planck-Gesellschaft, die 1948 aus der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft hervorgegangen ist, steht wegen vielfältiger personeller und institutioneller Kontinuitäten in deren unmittelbarer Nachfolge und geriet deswegen seit den achtziger Jahren zunehmend in die öffentliche Kritik. Auf einer Abschlusskonferenz in der vergangenen Woche in Berlin wurden nun die Ergebnisse des Forschungsprogramms präsentiert.

Ein Themenblock war dort die Verstrickung verschiedener Kaiser-Wilhelm-Institute in die nationalsozialistische Rassen- und Erbgesundheitspolitik, allen voran das Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik. Dessen Direktor Eugen Fischer sah die Aufgabe seines Instituts darin, sich »in den Dienst der wissenschaftlichen Unterbauung und praktischen Durchführung rassen- und bevölkerungspolitischer Maßregeln des neuen Staates« zu stellen. Durch die Forschung sollte also einerseits eine Legitimation der NS-Biopolitik geliefert und andererseits das nötige Expertenwissen zur Verfügung gestellt werden, wobei letztgenanntes bei der Identifizierung und Sterilisation von »Zigeunern« und »Rheinlandbastarden« auch ausgiebig getan wurde. Von einem Missbrauch der Wissenschaft durch die Politik kann hier, so die einhellige Meinung der Historiker, keine Rede sein, denn das Kaiser-Wilhelm-Institut (KWI) handelte freiwillig und oft auf eigene Initiative.

Auch an der entgrenzten Forschung im Bereich der Biowissenschaften waren führende Mitarbeiter des KWG beteiligt. Für das KWI sind Kontakte zu Mengele nach Auschwitz nachgewiesen, der die Wissenschaftler in Berlin-Dahlem mit Augenpaaren ermordeter Kinder und Blutproben versorgte.

Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft war als integraler Bestandteil des militärisch-industriell-akademischen Komplexes auch in vielen Bereichen der Rüstungsforschung tätig. Bemerkenswert ist hier, so der Wissenschafts- und Technikhistoriker Helmut Maier, der meist erstaunliche Erfolg, wie beispielsweise am Institut für Metallforschung, dessen Kriegswichtigkeit nicht nur als bloßes Etikett in der Antragslyrik auftauchte. Seine Forschungen zu Legierungen und Metallersatzstoffen ermöglichten trotz einer Verdreifachung der Rüstungsendfertigung eine Senkung des Verbrauchs der knappen Metalle um ein Drittel, so dass die Briten bereits vom »deutschen Metallwunder« sprachen.

Die Politikwissenschaftlerin Susanne Heim wies auf die Rolle der auf den ersten Blick harmlosen Agrarforschung hin. Als wichtige Säule der Autarkiepolitik galt sie jedoch als kriegsentscheidende Schlüsseltechnologie, da der Erste Weltkrieg nach verbreiteter Ansicht u.a. wegen Nahrungsmangels verloren wurde. Darüber hinaus gab es für sie im Zuge der Ostexpansion neue Aufgaben wie beispielsweise die Züchtung eines »winterharten Gebrauchspferds für den Osten«. Die zuständigen Institute ergriffen die durch Krieg und Ostexpansion entstehenden Chancen ohne Zögern. Die Besetzung von Teilen der Sowjetunion, damals führend in der Agrarforschung, erzeugte unter den Wissenschaftlern sogar eine wahre »Goldgräberstimmung«. Auf den wissenschaftlichen Beutezügen im Osten wurden wertvolle Züchtungssamenbanken geplündert und sowjetische Forschungsergebnisse als die eigenen verkauft.

Die Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus war also eine Erfolgsgeschichte. Die staatlichen Geldquellen sprudelten wie nie zuvor. Führende Mitglieder der Gesellschaft hatten gute Beziehungen zu den Schaltstellen des NS-Regimes. Das polykratische Chaos der staatlichen Wissenschaftspolitik wirkte sich nicht lähmend, sondern belebend auf die Forschung aus. Die Autonomie des Wissenschaftsbetriebs blieb weitgehend gewahrt und führte nicht etwa zu Widerstand, sondern zur Selbstmobilisierung. Im Allgemeinen wurde keine ideologisierte Pseudowissenschaft, sondern moderne und innovative Forschung auf hohem Niveau betrieben, die durch ihre unzähligen unspektakulären Ergebnisse maßgeblichen Anteil an der Stabilisierung des Systems hatte.

Trotzdem war die Selbststilisierung als Opfer die gängige Verteidigungsstrategie in der Wissenschaft nach 1945 – wie auch in der Wirtschaft, dort allerdings wurde die vermeintlich antikapitalistische Einstellung des NS-Regimes ins Feld geführt. Das klappte ganz gut, und wo es schwierig wurde, half man sich gegenseitig mit Persilscheinen. Die Vergangenheitspolitik der ersten beiden Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft, Otto Hahn und Adolf Butenandt, bestand in dem Versuch, die deutsche Wissenschaft durch die Erfindung einer geschichtslosen und politisch sterilen Legende aus der NS-Vergangenheit herauszulösen. Sie trugen damit wesentlich zur Verhinderung einer angemessenen Entschädigung von vertriebenen Wissenschaftlern, eingesetzten Zwangsarbeitern und Opfern der Menschenversuche bei.

Bis in die neunziger Jahre fanden sich in Festschriften der Max-Planck-Gesellschaft haarsträubende apologetische Formulierungen, es war von »Zumutungen und Zwängen des NS« und vom »Festhalten an reiner Wissenschaft« die Rede. Insofern ist das jetzige Bemühen der Max-Planck-Gesellschaft – wenn auch viel zu spät – ein begrüßenswerter Schritt.