Der Doppelblick

Neuer Berlin-Film

1927 wurde Walter Ruttmanns berühmter Dokumentarfilm »Berlin – Sinfonie einer Großstadt« uraufgeführt.

Pünktlich zum 75jährigen Jubiläum zeigte Thomas Schadt unter dem gleichen Titel seine Neuinterpretation von Ruttmanns Klassiker, einen 75minütigen Film, der den Anspruch auf Musealität sofort über die eingesetzten Produktionsmitteln formuliert: 35 mm, schwarz-weiß, stumm, über allen Bildern eine für den Film komponierte und vom Orchester des Südwestdeutschen Rundfunks eingespielte Musik. Stolz berichtete Schadt in einem Interview von über 96 000 Noten in der Partitur, von 70 Musikern und 60 Mikrofonen.

Ebenfalls im Jahr 2002 präsentierte Volker Sattel sein experimentelles Berlin-Porträt »Unternehmen Paradies«, das freilich in dieser Woche erst offiziell in die Kinos kommt. Auch hier ist eine Orientierung am Vorbild Ruttmann nicht zu übersehen, simuliert die Montage den Ablauf eines Tages: Im flachen Morgenlicht gleitet die Kamera zu Beginn an Reihenhäusern der Potsdamer Vorstadt entlang. Aufhören wird die Bewegung des Films in der Nacht eines Mouse-on-Mars-Konzerts.

Bis zum Ende wahrt Sattel Abstand, das ist seine Arbeitsvoraussetzung. Zwar operierte er mit einem kleinen Team, aber die gängig gewordenen Authentifizierungsverfahren, diese »Mitten-drin-im-echten-Leben«-Behauptungen von Wackelkamera, Stakkato-Schnitt und lauten Direkttönen hält er uns vom Leib. Lieber setzt er auf feingliedrige, mit der musique concrète verwandte Toncollagen, auf längere und vor allem auf feste Kameraeinstellungen.

Besonders deutlich wird sein Bekenntnis zum Anti-Festakt-Kino, wenn Sattel Veranstaltungen im öffentlichen Raum filmt. Zielsicher begibt er sich in die Versuchsanordnung der Mediendemokratie. Mehr als einmal fängt er dabei einen misstrauischen Seitenblick von Vertretern des Betriebs ein, wenn er im Dickicht von Stativen, Mikros, Kabeln und Satellitenschüsseln seine leicht verschobenen Standpunkte einnimmt. Er guckt von innen nach außen, auf Nischen und Ränder – nicht nur räumlich, sondern auch in der Zeit: Das Wesentliche findet in diesen Bildern noch nicht oder nicht mehr statt. Und wenn doch einmal etwas mit Nachrichtenwert passiert, dann misst Sattel dem nicht mehr Bedeutung bei als unbeteiligten Zuschauern hinter der Absperrung, der großen Anzahl verschiedenster Fahrzeuge in einem Staatsgast-Konvoi oder dem Einstudieren von Begrüßungsritualen auf roten Teppichen.

Sattel kann sich treiben lassen in den Ereignissen, ohne die Konzentration zu verlieren. Wie ein Surfer wartet er auf seine Welle, mit Eleganz und Gelassenheit und Gespür für den richtigen Augenblick.

Es gelingt Sattel ein doppelter Blick: Indem er auf Nebensächlichkeiten verweist, erinnert er gleichzeitig an das gewohnte Bild der elektronischen Berichterstattung. Sein On liefert das Off zum Standard-Bild, das gleichzeitig über die konditionierte Seherfahrung in seinen Ausschnitten anwesend bleibt. Zwei Rahmungsmethoden verschränken sich – man kann so von einem virtuellen Panorama sprechen, das nur das Gehirn herzustellen in der Lage ist.

Sattel setzt auf genau diese Kraft des Fragmentarischen. Seine Bilder brauchen Mitschauende. Er ist ein demokratischer Filmemacher. Kein Museumsdirektor.

stefan pethke

Volker Sattel: Unternehmen Paradies, 2002. Start: 23. März 2005