Europa agiert in Bahnsdorf

Vor dem europäischen Aktionstag für Bewegungsfreiheit und Bleiberecht wird über Prekarisierung diskutiert. Das Stichwort soll migrantische und europäische soziale Kämpfe vereinen. von julian poluda

Gleich neben dem Friedhof befindet sich ein ehemaliger Truppenübungsplatz der NVA. Dort, in der Friedhofstraße 1 in Bahnsdorf, Brandenburg, umgeben von vermintem Gelände und anderen Überbleibseln des Militärs, wohnen mehrere hundert Flüchtlinge. Viele von ihnen leben zu dritt oder zu viert in 14 Quadratmeter großen Containern. Die Unterkunft für AsylbewerberInnen ist eines der berüchtigten »Dschungelheime« fernab jeglicher Infrastruktur.

»Betreut« werden die Flüchtlinge von der Ausländerbehörde Senftenberg, die für ihre restriktiven Maßnahmen bekannt ist. So werden Flüchtlinge bei ihrer Ankunft dazu angehalten, eine Erklärung zu unterschreiben, die das örtliche Sozialamt bei möglichen Unfällen durch die Landminen aus seiner Zuständigkeit entlässt; das steht in dem Aufruf mehrerer antirassistischer Initiativen zur Mini-Lager-Action-Tour, die vom 1. bis 3. April in Bahnsdorf stattfinden soll.

Die Aktion steht im Zusammenhang mit dem wachsenden migrantischen Widerstand in Deutschland, der sich u.a. gegen diese Art von Unterkünften richtet. In Mecklenburg-Vorpommern erreichten Flüchtlinge bereits im März 2004 mit anhaltenden Protesten die Schließung des »Dschungelheims« Peeschen (Jungle World, 06/05).

Der geplante Protest in Bahnsdorf ist gleichzeitig Teil des zweiten europäischen Aktionstages für Bewegungsfreiheit und Bleiberecht am 2. April, der beim Europäischen Sozialforum in London beschlossen wurde. Ein Bündnis antirassistischer Gruppen ruft dazu auf, darunter viele selbst organisierte migrantische Gruppen wie The Voice, die Flüchtlingsinitiative Brandenburg und die Plataforma der Flüchtlinge und Migranten.

Zum ersten europäischen »Aktionstag gegen Abschiebelager« im vergangenen Jahr fanden in Deutschland Protestaktionen in Frankfurt, München, Bremen und Göttingen statt, an der sich jedoch enttäuschend wenige AktivistInnen beteiligten. In diesem Jahr soll gleichzteitig in über 50 europäischen Städten gegen das europäische Migrationsregime protestiert werden. Insbesondere in Italien ist damit zu rechnen, dass der Aktionstag in fast schon traditioneller Manier als Aufforderung zur Demontage von Internierungszentren aufgenommen wird. So sind Aktionen gegen das neue Zentrum Gradisca d’Isonzo geplant, gegen das bereits am 26. Februar demonstriert wurde, zudem soll mit militanten Kleinstaktionen die Verantwortung von Zulieferbetrieben und humanitären Organisationen in der Verwaltung der Zentren thematisiert werden.

Der Tatsache zum Trotz, dass nach einer Studie des Konflikt- und Gewaltforschers Wilhelm Heitmeyer 60 Prozent der deutschen Bevölkerung meinen, es gebe bereits zu viele Ausländer im Land, beginnen immer mehr MigrantInnen ihr Recht auf Ankunft und Verbleib in der Bundesrepublik einzufordern. Das Ziel migrantischer Initiativen ist es, die Ansätze eines selbst organisierten Widerstandes innerhalb der Internierungszentren zu unterstützen und so die täglichen migrantischen Kämpfe sichtbar zu machen, aber auch die Spaltung zwischen Flüchtlingen und MigrantInnen aufzuheben. »Für mich ist die Unterscheidung zwischen erzwungener und freiwilliger Migration nicht wesentlich. Wir teilen die gleichen Probleme«, sagt ein Aktivist der Plataforma der Flüchtlinge und Migranten.

Vor dem Hintergrund der Harmonisierung der europäischen Migrationspolitik und des internationalen Ausbaus des Lagerregimes koordinieren sich antirassistische Gruppen mehr und mehr über Ländergrenzen hinweg. So nahmen beispielsweise deutsche antirassistische Gruppen wie die Plataforma und Kanak Attak im März teil an einem Treffen in Paris zur Vorbereitung des Aktionstages am 2. April sowie des zweiten Euromayday, einer europäischen Kampagne gegen die Prekarisierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse. Die gemeinsame Planung der beiden Aktionstage steht für den Versuch, die trotz unterschiedlicher Lebensrealitäten ähnlichen Kämpfe migrantischer und europäischer AktivistInnen zusammenzuführen. Dissidente Alltagspraktiken von MigrantInnen könnten als Bestandteil eines gemeinsamen Kampfes betrachtet werden.

»MigrantInnen werden in der vor allem von europäischen AktivistInnen forcierten Debatte über Prekarisierung oft ausgeschlossen«, stellt eine Aktivistin der Plataforma fest. Auch in Paris wurde einmal mehr offenbar, dass unter den Migranten die Relevanz der europäischen sozialen Kämpfe für migrantische Belange in Frage gestellt wird. Nach wie vor gilt für viele MigrantInnen der von den französischen Sans Papiers bekannte Satz: »Wir sind hier, weil ihr dort seid«, der auf den Umstand verweist, dass die Gründe für Migration in der europäischen Außenpolitik zu suchen sind.

Viele MigrantInnen fordern von den europäischen AktivistInnen, im Zuge der sozialen Kämpfe in Europa die globalen Herrschaftsverhältnisse nicht aus dem Auge zu verlieren. Weil prekäre Lebensverhältnisse gerade für sie kein neues Phänomen darstellen, wehren sie sich gegen eine Vereinnahmung ihrer Interessen und verweisen auf die bedeutenden Unterschiede ihrer Lebensbedingungen zu denen »prekarisierter« europäischer AktivistInnen. Viele MigrantInnen äußern zudem ihre Verwunderung über das plötzliche erwachende Interesse europäischer AktivistInnen an ihren Lebens- und Arbeitsverhältnissen.

Wie immer muss sich die Relevanz des Diskurses an den praktischen Konsequenzen für die politische Aktion messen lassen. Die lassen bisher noch zu wünschen übrig: Während des Koordinationstreffens in Paris besetzten französische Sans Papiers das Unicef-Gebäude und veranstalteten am darauf folgenden Tag eine Demonstration »prekarisierter« MigrantInnen für das Recht auf bezahlbaren Wohnraum. Während die sie auf der Straße unterwegs waren, koordinierten die europäischen AktivistInnen fleißig ihre Aktionstage. Überschneidungen gab es nur wenige. »Das verdeutlicht den Widerspruch zwischen Theorie und Praxis im Diskurs der europäischen antirassistischen Szene. Wo sind all die europäischen AktivistInnen, wenn wir für unsere Rechte kämpfen?« fragt ein Aktivist der Plataforma.

Der Konflikt tritt auch bei den Vorbereitungen für die Mini-Lager-Action-Tour in Bahnsdorf zu Tage. So sehen die VertreterInnen der Plataforma die Aktion zwar als Teil des migrantischen Kampfes, fragen nun jedoch, in welchem Maße eigentlich migrantische Gruppen an der Entscheidung in London für einen solchen europäischen Aktionstag beteiligt waren. Andere gehen in ihrer Kritik weiter und bemängeln, dass die Situation von MigrantInnen bei all den vorbereitenden Debatten über Prekarisierung nicht ausreichend thematisiert wurde.