Grenzenlos dienen

Die EU will die umstrittene Dienstleistungsrichtlinie entschärfen. Liberalisierung ja, aber nicht in allen Bereichen, lautet die Botschaft des EU-Gipfels. von korbinian frenzel, brüssel

Einem der 25 Regierungschefs wurde eine etwas weiter gehende Interpretation der Ergebnisse des EU-Gipfels gestattet. Die Öffnung der europäischen Dienstleistungsmärkte sei gescheitert, erklärte Jacques Chirac zum Abschluss des EU-Ratstreffens am Mittwoch voriger Woche in Brüssel. Die Richtlinie müsse nun, meint Frankreichs Präsident, »vollständig überarbeitet« werden. Seine 24 Kolleginnen und Kollegen im Kreise der europäischen Staats- und Regierungschefs waren etwas zurückhaltender in der Bewertung ihres Beschlusses, bei der Liberalisierung der Servicemärkte »das europäische Sozialmodell zu bewahren«. Doch diesen politischen Freundschaftsdienst konnten sie dem Gaullisten nicht versagen, dem beim Referendum über die europäische Verfassung im Mai eine Niederlage drohen könnte – zu guten Teilen auch wegen der Bolkestein-Richtlinie.

Es geht um das derzeit wohl umstrittenste Projekt der EU, die Dienstleistungsrichtlinie, die nach der Schaffung des Binnenmarktes und der Einführung des Euro der europäischen Wirtschaft ein deutliches Wachstum verschaffen soll. Frits Bolkestein, ehemaliger EU-Binnenmarktkommissar, hatte kurz vor seinem Abgang vor einem Jahr die Vorlage geliefert, mit der die bisher weitgehend nationalen Dienstleistungsmärkte europaweit geöffnet und so Millionen neuer Jobs geschaffen werden sollen. Denn der grenzüberschreitende Verkehr von Dienstleistungen will bisher nicht recht funktionieren.

Ursache dafür, so klagen Vertreter der EU-Kommission, seien nationale Eigenheiten wie Handwerksordnungen und Berufsgenossenschaften, die sich vor allem gegen ausländische Anbieter richteten. Oder auch Umwelt- und Sozialstandards sowie Tarifregelungen. Bolkesteins Gegenrezept ist das so genannte Herkunftslandprinzip, nach dem Unternehmen ab 2010 lediglich den Regeln und Gesetzen ihres Herkunftslandes unterliegen sollen. Ein polnisches Unternehmen etwa müsste in Frankreich weder die 35-Stunden-Woche einhalten noch andere dort geltende Bestimmungen – eine komplette Umkehrung der bisherigen Rechtslage in der EU. Europäische Verbraucherschützer und Gewerkschafter befürchten, dass in der Folge auch bisher ausgeklammerte Bereiche wie Mindestlöhne fallen, weil den örtlichen Behörden die Kontrolle untersagt ist. (Jungle World, 01/05)

Ob und wie das Wesentliche an der Richtlinie erhalten bleibt, ist auch nach dem Gipfel offen. Chirac dürfte mit seiner Einschätzung, wonach das Herkunftslandprinzip vom Tisch sei, allerdings allein bleiben. Vielmehr hatten sich die Politiker in ihrem offiziellen Schlussdokument generell für die Öffnung der Servicemärkte ausgesprochen. »Das Herkunftslandsprinzip ist das Alpha und Omega der Richtlinie«, bekräftigt der niederländische Außenminister Bernard Bot. Gemeinsam mit den Vertretern aus Finnland, Irland und vor allem aus Osteuropa will er gerade hier keine Verwässerungen zulassen.

Die deutsche Regierung, im Kampf gegen die Dienstleistungsrichtlinie seit Beginn des Jahres an Frankreichs Seite, bleibt bei der Frage vage. »So wie das Thema mit der Schleswig-Holstein-Wahl für Gerhard Schröder interessant wurde, so könnte es nach Nordrhein-Westfalen schon wieder vorbei sein«, sagt ein sozialdemokratischer Abgeordneter aus dem europäischen Parlament hinter vorgehaltener Hand. Nach der Wahl müsse er keine Rücksicht auf Stammwähler und Gewerkschaften mehr nehmen und könne die Richtlinie durchwinken.

Dem Bundeskanzler könnte zudem bereits ausreichen, was die Regierungschefs während des Gipfels an Einschränkungen am Bolkestein-Entwurf beschlossen haben – wie auch den Regierungen in Dänemark, Belgien und Schweden, die zu den Kritikern der Richtlinie zählen. Denn zwei zentrale Bereiche sollen bei der Liberalisierung nun außen vor bleiben: der Gesundheitssektor und der gesamte Öffentliche Dienst. Gerade hier hatten die Länder befürchtet, dass sie vollends die Kontrolle über mit Milliarden Euro ausgestattete Sektoren verlieren könnten. Dass die EU-Kommission alle Dienstleistungen in Europa – ob öffentlich oder privat – über einen Kamm scheren wollte, stieß vor allem bei Sozialdemokraten auf Ablehnung. »Die Daseinsvorsorge für die Bürgerinnen und Bürger muss nicht privatisiert werden, und sie sollte es auch nicht«, erklärt Martin Schulz, Fraktionschef der Sozialdemokraten im Europaparlament.

Nun muss das EU-Parlament handeln. Dort ist der ursprüngliche Bolkestein-Entwurf seit Herbst vergangenen Jahres in den Beratungen und wird von allen politischen Seiten zerpflückt. Während Sozialisten, Grüne und Linksparteien das drohende Lohn- und Sozialdumping kritisieren, haben sich die Konservativen vor allem aus den reicheren EU-Mitgliedsstaaten zum Anwalt der Interessen von Berufsverbänden erklärt. Architekten und Zahnärzte sollen schließlich keine Billigkonkurrenz fürchten müssen. Als der Binnenmarktkommissar und Nachfolger Bolkesteins, Charlie McCreevy, vor einigen Wochen die Experten der Fraktionen unter Ausschluss der Öffentlichkeit und ohne Mitarbeiter im EU-Parlament zusammenrief, halfen ihm nicht einmal mehr Mitleidsappelle, um das Projekt zu retten. Da ihm bereits bei der Softwarepatentrichtlinie eine Niederlage drohe, brauche er Erfolge bei der Dienstleistungsdirektive, sagt der Ire. Andernfalls sei seine Stellung in der Kommission dauerhaft geschwächt.

In Brüssel wird inzwischen der Ruf nach einem komplett neuen Entwurf zum Dienstleistungsmarkt laut. Denn trotz aller Bekundungen und Absichtserklärungen, die soziale Komponente zu stärken, steht doch immer noch der ursprüngliche Text von Bolkestein zur Entscheidung, den in dieser Form keiner mehr will. Entsprechend groß ist der Unmut gegenüber der EU-Kommission, die sich bislang sträubt, einen neuen Vorschlag zu machen. »Es würde uns viel Arbeit ersparen, wenn McCreevy nachbessert«, sagt die sozialistische Abgeordnete Anne Van Lancker. Es laufe aber darauf hinaus, dass die Änderungen auf parlamentarischem Weg vorgenommen werden. Auch den Kritikern im EU-Parlament ist klar, dass das Herkunftslandprinzip das Wichtigste an der Richtlinie ist. Wer es ablehnt, sagt Nein zum gesamten Projekt.

Für eine vollständige Ablehnung der Bolkestein-Richtlinie wird es aber keine Mehrheit geben. Vielmehr zeichnet sich eine Lösung ab, in der Branchen aufgelistet werden, bei denen das Herkunftslandprinzip nicht gelten soll. Mit einer solchen Negativliste könnte Lohn- und Sozialdumping beispielsweise in der besonders von Krisen geschüttelten Bauindustrie verhindert werden. Alternativ wird überlegt, nur in ausgewählten Branchen das Bolkestein-Prinzip zu gestatten, während es im Allgemeinen beim Status quo bliebe. »Wir sollten dafür sorgen, dass wir die entscheidenden Änderungen an der Dienstleistungsrichtlinie vor dem französischen Verfassungsreferendum durchsetzen. Sonst könnte uns der politische Druck fehlen«, mahnt der belgische EU-Abgeordnete und Vizefraktionschef der Grünen, Pierre Jonckher. Denn die Kommission spiele auf Zeit. Und eventuell spiele Chirac mit.