»Überall ist es besser als hier!«

Das ist die Berliner Luft: Nirgends staubt es feiner. Aber sie ist keineswegs das einzige Problem in der Neuköllner Silbersteinstraße. Dort umgesehen haben sich martin kröger (text) und boris bocheinski (fotos)

Auf die Plätze, Straßen los! Werden Sie Kehrenbürger.« Grellorange leuchtet das Plakat mit der weißen Aufschrift der Berliner Stadtreinigungsbetriebe (BSR) in der Silbersteinstraße im Bezirk Neukölln. Mit dem Plakat will das Stadtreinigungsunternehmen »mit sozialem Anspruch« die BürgerInnen animieren, »für eine schönere Stadt« zu sorgen. Als besonderer Werbegag sind an jeder dieser Plakatwände drei Straßenbesen angebracht. In der Silbersteinstraße scheint das Bedürfnis, den »glänzenden Titel Kehrbürger« mit »blitzsauberer Urkunde« zu erlangen, besonders groß zu sein. Bei allen der alle paar hundert Meter angebrachten Plakatwände sind die Besen entwendet worden.

Dabei ist der Dreck, der die 1,4 Kilometer lange, zweispurige Silbersteinstraße derzeit über Berlin hinaus bekannt macht, mit keinem Besen dieser Welt zu beseitigen. Einen aerodynamischen Durchmesser von 10 Mikrometern (10 µm) haben die Teilchen, die als Feinstaub bekannt sind. Die mit bloßem Auge nicht zu erkennenden winzigen Partikel im Staub werden überwiegend vom Menschen geschaffen und zählen zu den am schwierigsten zu beseitigenden Luftschadstoffen. Die Messstation an der Kreuzung Silbersteinstraße, Ecke Karl-Marx-Straße verzeichnete am Mittwoch voriger Woche zum 35. Mal eine höhere Konzentration als die vorgeschriebene Höchstmarge von 50 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft. So oft darf der Grenzwert im gesamten Jahr überschritten werden.

Unscheinbar ist dieser graue, übermannshohe Blechkasten, auf dem in großen Lettern »Luftgüte-Meßstation« prangt. Oben ragen einige Luftansaugstutzen und Antennen heraus, an einer hängt ein braunes Laborglas, in dem eine Flüssigkeit kondensiert, an anderen baumeln Plastikfläschchen. Für besonders Interessierte sind in Miniaturschrift Telefonnummern angeschlagen, unter denen die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz Auskunft zu den neuesten Messergebnissen erteilt. Insgesamt 22 dieser Stationen erfassen über die Stadt verteilt die Schadstoffbelastung der Berliner Luft. Für die Telefonnummern scheint sich allerdings niemand zu interessieren. Mit dem Blechcontainer wissen wohl nur die Graffiti-KünstlerInnen etwas anzufangen, die den Kasten mit Aufklebern und Taggs verziert haben. Hier ist er also, der mit Feinstaub am stärksten kontaminierte Ort Berlins.

Gegenüber liegt der kleine »Firat-Markt« von Ilker Aydin*. Der 43jährige bietet seit sieben Jahren ein buntes Sortiment aus türkischen und deutschen Produkten an: neben Oliven, Fladenbrot, Eingelegtem und Frischfleisch auch Gemüse, das er in großen Auslagen direkt an der Straße drapiert hat. Das Geschäft läuft nicht gut, die Mieten sind teuer. Grimmig mustert er, während er Gemüse auf die Waage legt, den donnernden Verkehr auf der Straße. »Zu viele Autos«, sagt er. Und: »Zu viel Lärm.« Am meisten bereitet ihm die Straße wegen der Kinder sorgen. »Die Jüngsten«, erklärt Aydin, »haben höllische Angst, die Straße zu überqueren.« Besonders wegen der Schwerlastwagen, die die Silbersteinstraße nutzen, da sie zwei Industriegebiete verbindet, obwohl in der Straße eine Geschwindigkeitsbegrenzung von 30 Stundenkilometern besteht und ein Nachtfahrverbot für LKW. Ursprünglich war auch die Stadtautobahn speziell nach Osten verlängert worden, um den LKW-Verkehr aus der Straße umzuleiten. Seitdem die LKW-Maut vom Bundesverkehrsministerium eingeführt wurde, nutzen die Brummis wieder den Weg durch die Silbersteinstraße, denn im Gegensatz zur Autobahn ist er gebührenfrei.

Gerade Dieselfahrzeuge wie die Lastkraftwagen werden hauptsächlich für die hohen Feinstaubkonzentrationen verantwortlich gemacht. Zwar wird etwa die Hälfte der Partikelteilchen aus anderen Regionen Europas durch Winde importiert, im Falle Berlins wegen der meteorologischen Rahmenbedingungen hauptsächlich aus dem Kohlegebiet Südpolens, die andere Hälfte ist jedoch Berliner Eigenproduktion. Wobei der Löwenanteil durch den Rußausstoß der Dieselmotoren entsteht, die mehr als 1 000 Mal mehr Feinpartikel freisetzen als Benzinmotoren. Dazu kommt: Der Anteil von Dieselmotoren hat sich in den letzten Jahren mit 40 Prozent an der Gesamtzahl der Fahrzeuge mehr als verdoppelt. Der Rest entsteht durch Abnutzung der Bremsbeläge von Fahrzeugen, bei der Nutzung von Kohleöfen und bei der industriellen Produktion.

Dass das Thema Feinstaub überhaupt öffentlich wahrgenommen wird, ist auch einer Initiative des Berliner Krankenhauses Charité, des Bundesumweltministeriums, der Berliner Gasbetriebe »Gasag« und des Unternehmens Linde Gas geschuldet, die vom 17. bis 19. März auf dem Alexanderplatz Informationsveranstaltungen zum Thema im Rahmen des alljährlichen Ärztekongresses zur Lungenheilkunde durchgeführt haben. Unter dem Motto »Berliner Luftraum« sollte auf die großen gesundheitlichen Gefahren, die von den Minipartikeln ausgehen, aufmerksam gemacht werden.

»Außerdem«, erklärt Robin Alexander, die für die Pressearbeit dieser Initiative zuständig war, »ging es darum, zu demonstrieren, dass das Problem Feinstaub und Luftverschmutzung nur durch eine Kooperation von Medizin, Industrie, Wirtschaft und Politik gemeinsam angegangen werden kann.« Gerade Langzeituntersuchungen hätten gezeigt, dass es einen direkten Zusammenhang von Tod und Feinstaubbelastung gibt: Den kleinen Teilchen gelangen über die Lunge in den Blutkreislauf, um von dort in die Organe des Körpers wie das Herz transportiert zu werden und diese dann zu schädigen.

Der Münchner Umwelt-Epidemiologe Heinz-Erich Wichmann schätzt nach jahrzehntelangen Forschungen, dass in Deutschland zwischen 10 000 und 19 000 Menschen frühzeitig an Rußabgasen sterben, fast doppelt so viele wie durch Verkehrsunfälle. Die Lebenserwartung aller Menschen in diesem Land sinkt dadurch schlimmstenfalls um neun Monate. Insbesondere seien durch die Feinstäube Alte, Menschen mit schwacher Immunabwehr und Kleinkinder gefährdet, betont das Bundesumweltministerium in einer Broschüre.

In der Silbersteingrundschule, die mit ihrer roten Backsteinfront direkt an der Silbersteinstraße liegt, ist dieses Problem durchaus bekannt, und es wird im Lehrerkollegium darüber gesprochen. »Dennoch«, sagt Rektor Reiner Schneider, »sehen wir kaum Möglichkeiten, etwas dagegen zu tun.« Im Sommer sind die Fenster an der Straßenfront aufgrund der Sonnenlage und der Lärmbelästigung sowieso die meiste Zeit geschlossen. Die aktuelle Situation führt auch bei den Eltern nicht zur Beunruhigung. »Die meisten Eltern wohnen ja selbst in der Silbersteinstraße«, erzählt Schneider. Außerdem sei die ganze Problematik der Luftverschmutzung bereits seit Jahren in der Diskussion, da die Silbersteinstraße schon in früher publizierten Smoglisten an erster Stelle rangierte. »Ich glaube«, sagt der Rektor, »dass die Eltern sich damit abgefunden haben.«

Zudem habe ein anderes Problemen Vorrang. »Der Anteil der Schüler mit nicht deutscher Herkunft ist auf über 90 Prozent gestiegen«, berichtet Schneider, der meint, Integration sei »nur möglich, wenn es deutsche Schüler gibt«.

Durch die Situation an seiner Schule bestünden viel zu wenige Kontakte zwischen Kindern aus deutschen Familien und MigrantInnen-Kindern. Verschärft werde die Situation dadurch, dass deutsche Eltern ihre Kinder auf Schulen südlich der Stadtautobahn schickten, da dort der Anteil von deutschen SchülerInnen wieder höher sei. Derweil behilft sich die Silbersteinschule mit Kursen »Deutsch als Zweitsprache« und außerschulischen Deutschkursen für die migrantischen Eltern. »Bei anderen Schulen des Bezirks, die noch einen deutschen Hintergrund haben«, sagt Rektor Schneider, »habe ich allerdings den Eindruck, dass sie alles tun, um sich gegen einen höheren Anteil von Migranten zu wehren.« Eine gemeinsame Lösung der bestehenden Probleme sei so nicht zu bewerkstelligen. Ein weiteres Problem für die Grundschule, die zurzeit von 325 SchülerInnen besucht wird, entstehe durch die unattraktive Lage der Straße: »Sobald eine migrantische Familie genug Geld beisammen hat, zieht sie weg«, will Schneider beobachtet haben. Die Fluktuation sei sehr hoch, was eine kontinuierliche Arbeit zusätzlich erschwert.

Aufschwung sieht anders aus: In der Silbersteinstraße stehenden viele Geschäfts- und Gewerberäume leer. Schaufenster sind verrammelt oder werden offensichtlich seit Jahren nicht mehr genutzt. Hier und dort hängen noch alte Namensschilder und Werbetafeln, die auf eine frühere Nutzung schließen lassen. Resignation scheint sich breit zu machen. Der türkischen Reiseverkehrskauffrau bei Öger Tours fällt nur ein, dass es »über diese Straße nichts zu erzählen gibt, weil hier doch nichts los ist«. Das war jedoch nicht immer so.

»Früher«, erzählt Mario, »kamen meine Verwandten extra aus Reinickendorf angefahren, um in der Karl-Marx-Straße shoppen zu gehen.« Diese Zeiten seien lange vorbei. Mario trägt eine Baseballmütze mit roten Flammen darauf sowie eine Lederkluft. Zusammen mit seinen Kumpels hängt er fast jeden Tag in der Country- und Oldie-Kneipe »Yellowtrain« ab. An den Holztresen gelehnt, erklärt er gerade dem Wirt, der ebenfalls komplett in Ledermontur inklusive Lederkäppi unterwegs ist, dass er einen Anwalt auf die Arbeitsagentur hetzen wolle, weil sie ihm eine Sperre seines ALG-II-Geldes angedroht habe. Hartz IV macht den Menschen im »Yellowtrain« mehr zu schaffen als Feinstaub.

Dabei hat man hier auf die sozialen Veränderungen längst reagiert: Auf Schildern wird »Hartz-IV-Bier« für 39 Cent angepriesen und darauf hingewiesen, dass Anschreiben nicht mehr möglich ist. »Das Geld«, erzählt ein Rentner, der mit zwei aufgetakelten älteren Damen und ihren kläffenden Modehündchen in einer Ecke unter Südstaatenflagge und Strandpanoramabild hockt, »sitzt hier gar nicht mehr locker.« Angefangen habe alles mit der Euro-Umstellung. Mit der Einführung von Hartz IV gehe es endgültig bergab. Unterdessen kommt Hotte, ein weiterer Stammgast mit Matte und Lederjacke, herein und empfiehlt, die Tür mit Plexiglas auszustatten. Erst gestern musste ein Gast rausgeschmissen werden, erläutert der Wirt, weswegen die Tür nun schräg in den Angeln hängt.

Um sich in der Kneipe zu verständigen, heben die Gäste ständig die Stimmen, weil der Straßenlärm hereindröhnt. Mario zeigt grinsend auf sein wackelndes Bierglas. »Die LKW-Fahrer denken, das ist eine Rennstrecke«, sagt er. Er wohnt schon seit über 17 Jahren in der Silbersteinstraße. Wirklich lustig findet er die Brummis nicht, obwohl an den Wänden seiner Stammkneipe Hunderte von Miniaturnachbildungen von Trucks hängen. Vor zwei Jahren sei ein Kind unten an der Kreuzung zwischen zwei LKW geraten, erzählt er. »Es war ein Horroranblick, von dem Kind und dem Fahrrad ist nichts übrig geblieben.« Des öfteren nehmen die LKW die Straßenabsperrungen aus Stahl mit, wenn sie um die Kurve fahren, wissen die Gäste.

Amüsiert hätten sie sich gestern über den vor dem »Yellowtrain« geparkten Verkehrszähler, erzählt Mario. Nach dem Bekanntwerden der Grenzwertüberschreitungen für Feinstäube hat die Stadtentwicklungssenatorin Ingeborg Junge-Reyer (SPD) angekündigt, zunächst Verkehrszählungen vorzunehmen, bevor man Sofortmaßnahmen wie eine Komplettsperrung für LKW ergreifen wolle. »Der Verkehrszähler kam aus dem Kopfschütteln gar nicht mehr raus, jedes Mal wenn wieder ein LKW mit 60 Sachen vorbeidonnerte«, lachen Mario und seine Freunde, die gerne auf die 35-Tonner verzichten würden.

Eine Forderung, die auch von Vereinigungen wie der Grünen Liga unterstützt wird. »Wir fordern die schnellstmögliche Einführung der Umweltzonen«, sagt Karen Thomeyer, zuständig für Presse und Öffentlichkeitsarbeit bei der Grünen Liga. Mit den Umweltzonen könnten »Stinker« aus dem Innenstadtring ferngehalten werden. Die Einführung von Umweltzonen hat auch der rot-rote Senat auf seine Agenda gesetzt. Sperrgebiete für filterlose Fahrzeuge sind jedoch erst für das Jahr 2008 vorgesehen. Zusätzliche Sofortmaßnahmen sind erst nach Auswertung der Zählung vor dem »Yellowtrain« vorgesehen, wie eine Senatssprecherin der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung bestätigt.

Für den Erotikshop nebenan ist es egal, ob mit irgendwelchen Maßnahmen der Wohnwert der Straße erhöht werden kann. Die Schließung des Ladens steht bereits fest, und die Eigentümerin Jaqueline Hansen* dirigiert nur noch den Ausverkauf des Sortiments an Dessous, Sexspielzeugen und Videos. Immerhin 13 Jahre hat sie in diesem Laden am Tresen mit ihrem Streichelhündchen verbracht, erzählt die stark geschminkte Mittvierzigerin mit schwarzen Locken. Die Straße und die Gegend kennt sie ganz genau, schließlich ist sie hier aufgewachsen. Sie hat sie alle kommen und gehen und dann nicht wiederkommen sehen, den Zeitungsmann, die Bankangestellten, den Bäcker, den Autohändler, »das ganze langsame Sterben«. »Wissen sie«, sagt sie, »ein Erotikladen ist ein kleiner Kummerkasten, ich kenne inzwischen sogar die Enkelkinder und alle Probleme der Kunden.« Allerdings seien inzwischen fast alle Stammkunden weggezogen oder hätten wegen Hartz IV kein Geld mehr. Die neu zugezogenen MigrantInnen meiden ihren Laden. Schuld am Niedergang seien aber auch die Vermieter, die weiterhin horrende Mieten verlangten. »Überall«, sagt Frau Hansen nach einer nachdenklichen Pause und einem Blick aus dem Fenster ihres Geschäftes, »ist es besser als hier.« Neukölln werde sie in Zukunft weiträumig meiden.

Unterdessen, es ist nach 22 Uhr, ebbt der Verkehr merklich ab an der Straße an der es kaum Bäume gibt, weil keine Sorte robust genug ist, die Abgase zu vertragen. Der Grund für das Abebben ist das Nachtfahrverbot. Im »Yellowtrain« tritt jetzt die Country-Hausband für fünf Euro Eintritt auf. Am Ende der Silbersteinstraße parken viele LKW, in denen die FahrerInnen die Nacht verbringen werden, bevor es Punkt fünf Uhr morgens weitergeht und der Grenzwert für Feinstaub wahrscheinlich zum 36. Mal übertroffen wird.

* Name von der Redaktion geändert