Sprich, Täter, sprich!

Die Erinnerung an den Nationalsozialismus spart die Biografien der Überlebenden immer stärker aus. von jesko bender

Hat Hitler damals im »Führerbunker« wirklich den Satz »Die Spaghetti waren sehr gut« gesagt? Und hat seine Sekretärin Traudl Junge beim Vorstellungsgespräch so erbärmlich viele Fehler gemacht, wie es in Bernd Eichingers Film »Der Untergang« dargestellt wird?

Das sind zentrale Fragen, denn die Authentizität ist heutzutage alles. Wie sonst soll man sich in Hitler, Speer, Junge und die Kinder von Goebbels hineinversetzen? Geschichte nachfühlen und nacherleben zu können, fordert nicht nur von den Zuschauern, sondern auch von den Schauspielern Identifikation. Bruno Ganz, der die Rolle Hitlers spielte, hatte deshalb vor dem Start des Films Angst davor, auf der Straße plötzlich für Hitler gehalten zu werden. Schließlich habe er »eine Art Verständnis für diesen Mann« entwickeln müssen: »Wenn ich Hitler nur hasse, komme ich nicht an ihn heran.«

Der Wahn der Authentizität, für den »Der Untergang« nur ein Beispiel ist, die daraus resultierende Einfühlung in die Täter und die Geschlossenheit der Erzählung sind die bestimmenden Charakteristika der Erinnerungskultur im Jahr 2005. Das Gedenken rund um den 60. Jahrestag der Niederschlagung des Nationalsozialismus ist bestimmt von diesen Tätererzählungen. Dafür stehen auch die 22 ehemaligen »Hitlerjungen«, die sich als solche vor kurzem auf der Titelseite der Bild-Zeitung geoutet haben und doch von nichts und niemandem etwas zu befürchten haben müssen. Mit diesem Bekenntnis wollten sie dazu beitragen, sowohl die deutsche Nationalehre als auch die Ehre des Papstes wieder herzustellen, die empfindlich gestört wurde, weil insbesondere in England auf dessen Zeit in der Hitlerjugend hingewiesen wurde. »Ich war Hitler-Junge. Ich muss mich doch nicht schämen!« Spätestens seit dieser Schlagzeile sollte es niemanden mehr geben, der noch behauptet, die Großeltern oder Eltern würden zum Thema Nationalsozialismus schweigen oder hätten jemals geschwiegen. Deutschland erzählt sich seine Nachkriegsgeschichte, authentisch, im Sinne des Wortes selbstverständlich und versöhnt.

Schaudern und Leiden

Es geht im aktuellen Erinnerungsdiskurs nicht darum, Geschichte in ihren Zusammenhängen zu beschreiben. Sie wird im gemeinsamen Gespräch der Generationen verfertigt. Mimesis ist an die Stelle von Beschreibung getreten, und historische Zusammenhänge des Geschehens treten in den Hintergrund. In Eichingers Hitler-Schmonzette durchlebt der Zuschauer sämtliche Gefühlsregungen, die Aristoteles in seiner Tragödientheorie formulierte. Die mimetische Darstellung lässt den Zuschauer schaudern und leiden, er ist hin- und hergerissen, fühlt mit den Figuren mit, und am Ende, nach diesem Wechselbad der Gefühle, kommt die große Läuterung.

Noch etwas: Hat Hitler mit der linken oder der rechten Hand seine Spaghetti gegessen? Wenn schon Authentizität, dann aber richtig.

Das meint übrigens auch der Sohn von Albert Speer, nachdem er sich die neunstündige Fernsehserie »Speer und er« von Heinrich Breloer, die Anfang Mai im Fernsehen laufen wird, angesehen hat. In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung für ihre gefühlsduselige, vor Empathie mit den Tätern nur so strotzenden Reportagereihe »Die letzten 50 Tage« kritisierte er an der Serie folgendes: In »Speer und Er« stehe neben »dem Haus auf dem Obersalzberg (…) ein Fahnenmast mit Hakenkreuzfahne. Das halte ich für unwahrscheinlich. (…) Ganz unstimmig ist auch das Kostüm, das meine Mutter in dem Film anlässlich eines Empfangs bei Hitler trägt: So kleinbürgerlich-deutsch hätte meine Mutter sich nie gekleidet. Die hat in Paris eingekauft, die war elegant.« Hätte man Speer junior mal gefragt, dann wären solche Patzer nicht passiert. Jetzt ist die ganze Serie schon im Kasten.

Weil historische oder gesellschaftswissenschaftliche Studien zum Nationalsozialismus nicht das Bedürfnis der jungen und alten Generationen nach Verständnis und Einfühlung stillen können, sind die Täter inzwischen zu gleichberechtigten Zeitzeugen geworden. Das illustrieren auch die Äußerungen des 1973 geborenen Dennis Gansel, Autor und Regisseur des Films »Napola«, der sein Verfahren – einfach mal alles glauben, was die Zeitzeugen so erzählen – so beschreibt: »Ziel eines solchen Films muss sein, dass ich als Zuschauer die Hauptfiguren wirklich verstehen kann, auch und gerade auf der emotionalen Ebene (…). Wir alle fragen uns doch heute noch, wie es dazu kommen konnte. Vor allem die junge Generation, denen ich verständlich machen will, wie die Generation damals fühlte.«

Erinnertes erfinden

Was macht man in so einem Fall? Opi fragen. »Die Hitlerjugend hat mich sportlich weitergebracht und gefördert. Heute geht doch auch jeder in Vereine«, bemerkt ein 86jähriger ehemaliger Hitlerjunge auf Nachfrage der Bild-Zeitung. »Ich hatte keine Wahl. Ich habe nie etwas Böses getan, nie etwas Böses befürwortet. Ich schäme mich nicht!« sagt ein fast Gleichaltriger. Wiederum ein anderer erklärt: »Wer dagegen war (…), kam sofort ins Gefängnis.«

Erinnerungsgemeinschaften entwickeln ihre Identität und ihr Wir-Gefühl durch Erzählungen, die den Deutungsbereich der Geschichte in der Gegenwart aushandeln. Historische Ereignisse haben hier keine statische, festgeschriebene Bedeutung, sondern stellen sich als diskursiv umkämpfter Raum dar. In diesem Raum nehmen die 22 alten Männer, die sich in der Bild-Zeitung als ehemalige Hitlerjungen outen, eine hegemoniale Position ein; sie arbeiten mit ihren Statements an einer Erzählung der Tätergeneration weiter, die längst zu einem »fairen« und von Verständnis gekennzeichneten Dialog mit ihren Kindern und Enkeln geworden ist. Man kann sich gut vorstellen, wie die Männer in der Fußgängerzone vom Praktikanten nach ihrer Zeit in der Hitlerjugend gefragt werden und die Antwort aus ihnen heraussprudelt, während der Praktikant verständnisvoll nickt und sich denkt: »Es war ja auch keine leichte Zeit damals.« Die Generationen sind versöhnt, und die Erzählungen der Täter boomen.

Harald Welzer, Mitautor der Studie »Opa war kein Nazi«, bemerkte dazu kürzlich in einem Interview, dass im Zuge der Aufwertung dieses Diskurses eine Fiktion des Authentischen entstehe, die »von dem Irrglauben ausgeht, wenn jemand eine Zeit persönlich miterlebt hat, sei das, was er darüber sagen kann, irgendwie wirklicher oder authentischer oder gar wahrhaftiger, als wenn jemand so etwas sagt, der sich mit dieser Vergangenheit wissenschaftlich beschäftigt hat«.

Seit Mitte der neunziger Jahre haben die Täter als Zeitzeugen eine ständige Aufwertung im offiziellen Erinnerungsdiskurs erfahren, insbesondere die Oral History der größeren und kleineren Täter fehlt in keiner Fernsehserie über den Nationalsozialismus. Im Familiengedächtnis haben ihre Erzählungen schon immer überdauert. Den Holocaust zu leugnen, käme auch bei den heutigen Enkelkindern nicht wirklich gut an. Aber darum geht es in diesen Erzählungen auch nicht. Vielmehr werden die Tätergeschichten produktiv fortgeschrieben und in einen stringenten Raum der Erzählung übersetzt. Der Blick auf die Geschichte wird zu einem textuellen Raum der Täternarrative und ihrer jeweiligen, gegenwärtigen Re-Konstruktionen der Vergangenheit im gemeinsamen Gespräch mit den Nachkommen. Jedes Mitglied der Erinnerungsgemeinschaft kann sich in ihm wiederfinden. Wer das nicht kann, fällt aus der Geschichte heraus, kommt nicht mehr vor und wird bedeutungslos – die Opfer und Überlebenden des Holocaust.

Wenn sich heute, nach knapp acht Jahren rot-grüner und von 68ern geprägter Erinnerungspolitik die stringente Tätererzählung in Form der Generationenversöhnung durchsetzt, verweist das zudem darauf, dass sich die Täter ihrer Sprache immer sicher waren. Denn die vielfältigen Anknüpfungen an die Geschichten der Täter, die sich für das Narrativ anbieten, ermöglichen ein kommunikatives, lebendiges Fortschreiben der Tätergeschichte, während andererseits die Erfahrungen der Opfer und der Überlebenden der Historisierung anheim fallen.

Die Sprache von Goebbels

Die Täter wurden nie ihrer Sprache enteignet, zu keinem Moment wendete sich die Sprache, mit der sie aufwuchsen, gegen sie, artikulierte eine Vernichtungsdrohung oder wurde gar zum Idiom der Vernichtung selbst. Dieses Zusammenspiel von deutscher Sprache und Vernichtung bleibt in den niedergeschriebenen Erinnerungen Überlebender in den kursiv oder in Anführungsstriche gesetzten Worten wie beispielsweise »Rampe« festgehalten. Der Auschwitzüberlebende Jean Améry fragte, ob dem Intellektuellen seine Bildung und sein kulturelles Wissen im Konzentrationslager »in den entscheidenden Momenten geholfen« hätten. »Haben sie ihm das Überstehen erleichtert?« Seine Antwort lautet: Nein. Warum sie das nicht konnten, beantwortet Améry deutlich: »In Auschwitz (…) musste der isolierte einzelne noch dem letzten SS-Mann die gesamte deutsche Kultur samt Dürer und Reger, Gryphius und Trakl überlassen.«

In Deutschland ist diese Erfahrung nie angekommen. Selbst ein großer Teil der vermeintlich linken Literaten der Gruppe 47 zeigte sich unmittelbar nach dem Kriegsende mehr an der neonationalen Erneuerung interessiert als an der Selbstreflexion und der Zeugenschaft. So schrieb beispielsweise Alfred Andersch in der ersten Ausgabe der Zeitschrift Der Ruf im Jahr 1946, dass »die Jugend Europas (…) den Kampf gegen alle Feinde der Freiheit fanatisch führen« werde, und variierte damit lediglich Hitlers Bekanntgabe, den nationalsozialistischen Kampf »mit dem äußersten Fanatismus und bis zur letzten Konsequenz zu führen«. Der Literaturwissenschaftler und Schriftsteller W.G. Sebald wies vor sieben Jahren auf diesen Zusammenhang hin und bemerkte dazu, dass Der Ruf sowieso »ein wahres Glossarium und Register der faschistischen Sprache« geboten habe.

Kontinuität gibt es also dort, wo eigentlich der Bruch proklamiert wurde. Der Ruf und die aus dem Krieg heimkehrenden, jungen Autoren der Gruppe 47 kultivierten die Sprache der Härte auch im Nachkriegsdeutschland und retteten damit die Kontinuität des nationalistischen und antisemitischen Narrativs hinüber in ihr ganz eigenes Erinnerungsprojekt. Voller Stolz erklärte der frühere Wehrmachtssoldat Andersch – dem in seiner Kompanie die »Drückeberger-Atmosphäre« auf den Geist ging –, seine Generation komme »nicht aus der Stille von Studierzimmern – dazu hatten sie gar keine Zeit –, sondern unmittelbar aus dem Kampf um Europa, aus der Aktion«. Welchen Inhalts die neue alte Bewegung war, zeigte sich im Umgang mit jüdischen Autoren. Paul Celans Stimme wurde vom Lachen der Gruppenmitglieder übertönt, als er die »Todesfuge« bei einem Gruppentreffen vortrug. Danach bekam er attestiert, er rede wie Goebbels. Kein Wunder also, dass Ingeborg Bachmann bei einem Gruppentreffen den Eindruck hatte, sie »sei unter deutsche Nazis gefallen«. Als der jüdische Deutsche Hermann Kesten der Autorenvereinigung eine Nähe zum Antisemitismus vorwarf, gab der Kopf der Gruppe, Hans-Werner Richter, tiefe Einblicke in sein Erinnerungsprogramm im Hinblick auf die Opfer des Holocaust: »Kesten ist Jude, und wo kommen wir hin, wenn wir jetzt die Vergangenheit untereinander austragen, d.h., ich rechne Kesten nicht uns zugehörig, aber er empfindet es so.« Die Erinnerungskultur rund um den 8. Mai zeugt von vielem – aber sicherlich nicht von einer Praxis, welche die von Améry beschriebene Erfahrung aufnimmt.

Deutsche Einheit

Der Ausschluss der Erfahrungen der Überlebenden führt zu einer Form der Historisierung, die sich in der heutigen Erinnerungspraxis zeigt. Während das Täternarrativ ständig weitererzählt wird – wie schlimm die Bombardierungen waren, die Vertreibungen, die fehlenden Familienväter etc. –, werden die Biografien der Opfer in den Hintergrund gedrängt. Im Hinblick auf sie ist die Formel vom »Unbeschreiblichen« festgeschrieben oder die Rede davon, »nie vergessen zu dürfen«, die gleichwohl eine Leerformel ist. Mit ihr kann die eigene Schuld ruhig eingestanden werden.

»Alles deutet darauf hin, dass in das monumentale Konzept eines ›Holocaust‹-Denkmals die Borniertheit eingeschrieben worden ist, für die das ›literarische‹ Pilotunternehmen Gruppe 47 in der deutschen Nachkriegsgeschichte symptomatisch ist mit seinem leeren Gerede von (Nicht-) Schuld und (Nicht-) Antisemitismus, geschichtslos, ungebildet«, schreibt der Literaturwissenschaftler Klaus Briegleb über die Gemeinsamkeiten zwischen der heutigen Erinnerungspolitik und der der Gruppe 47. Das anerkennende, aber leere Sprechen von der eigenen Schuld übersetzt sich letztlich in die Beteuerung der Unschuld, und die Rede vom »Unbeschreiblichen«, welches das Mahnmal repräsentiere, wird in den ahistorischen Raum gebannt. Währenddessen verständigen sich die Täter mit ihren Nachkommen über sich selbst.

Am Beginn dieses Prozesses steht die Wehrmachtsausstellung. Die Auseinandersetzungen, die diese wichtige Ausstellung auslöste, waren den Nachkriegsgenerationen der Anlass, den Dialog mit den Tätern zu suchen. Täter, ihre Kinder und Enkel begannen, gemeinsam ihren Blick auf die Geschichte auszuhandeln. Der Kurator der ersten Ausstellung, Hannes Heer, formulierte die Chancen dieses Gesprächs so: »Wir, eure Söhne und Töchter, eure Enkel werden euch – anders als 1968 – nicht selbstgerecht verurteilen und moralisch verdammen. Wir werden den Schmerz mit euch teilen, im Wissen, dass keiner von uns sagen kann, er hätte in eurer Situation anders, anständiger gehandelt. Die Ausstellung ist die Chance dazu, diesen Prozess der Versöhnung einzuleiten.«

Die Einheit der Erinnerungsgemeinschaft wird durch dieses Dialogangebot aufrechterhalten; wie schön, dass wir endlich einmal darüber geredet haben. Wieso sollte Gerhard Schröder also nicht ein Bild von seinem Vater in Wehrmachtsuniform auf dem Schreibtisch stehen haben? Eine Verherrlichung der Wehrmacht wird man ihm nur schwerlich vorwerfen können. Auch der medial inszenierte Gang zum Grab seines Vaters zeugt vielmehr von dieser Generationenversöhnung als von einer revisionistischen Landserverehrung.

Paul Celan bemerkte in einer Rede über Schreiben und Sprechen nach Auschwitz, dass diesem »sein 20. Jänner«, das Datum der Wannseekonferenz im Jahr 1942, auf der die Vernichtung der europäischen Juden beschlossen wurde, fortan eingeschrieben sei. Dieser 20. Januar 1942 existiert im heutigen Erinnerungsdiskurs jedoch nicht jenseits des historischen Datums.