Am Sterbebett

Mit der Verfassung erledigt sich auch die Idee des alten Europa von thomas uwer

Er erkenne eine Leiche, wenn er sie sehe, kommentierte der Sprecher der britischen Tories lakonisch die Abstimmungen zur EU-Verfassung in Frankreich und den Niederlanden und fasste zusammen, was trotz aller beschwichtigenden Rhetorik in den 25 europäischen Staaten genauso erkannt wird: Die europäische Verfassung ist tot. Lediglich über die Frage, wer sie ermordet hat, herrscht Uneinigkeit.

»Wenn aus dem Wählervotum mit Sicherheit eines herauszulesen ist«, sezierte Jürgen Habermas, »dann ist es die Botschaft: Nicht alle westlichen Nationen sind bereit, bei sich und weltweit die kulturellen und sozialen Kosten eines fehlenden Wohlstandsausgleichs in Kauf zu nehmen, die ihnen die Neoliberalen um eines beschleunigten Wohlstandszuwachses willen zumuten möchten.« Nach dem Scheitern der Verfassung sei nun »das wahrscheinlichste Szenario ein Abdriften unseres als politische Größe zerfallenden Kontinents in den gesellschaftspolitischen Sog der Hegemonialmacht«. Sieger der Abstimmung, konstatiert Habermas voller Gram, seien die »republikanischen Scharfmacher« in Washington.

Sollte seine Analyse auch nur zu einem Bruchteil zutreffen, dann wäre dies in der Tat ein vernichtendes Urteil über die Verfasstheit des alten Europa im Jahre drei nach dessen Ausrufung. Dann wäre nach den Beitrittsstaaten nunmehr auch die Bevölkerung des alten Europa zur Koalition der Willigen übergelaufen, und zwar einzig, weil sie nicht verstehen will, dass gegen eine Hegemonialmacht nur eines hilft: selbst die Hegemonialmacht zu werden. Oder, wie Habermas es ausdrückt, »aus den euphemistischen Beschwörungen der global governance eine handfeste Weltinnenpolitik zu machen«. So spiegelt sich das destruktive Element der Abstimmungen in der Interpretation der zugrundeliegenden Motive wider. Denn es mag durchaus sein, dass die Franzosen mehr noch als die Niederländer nicht nur gegen die Verfassung, sondern zugleich gegen »globalisierte Märkte« und den »Neoliberalismus« gestimmt haben. Mit Sicherheit trifft auch zu, dass die Europäer noch lieber Amerika wegwählen würden, wenn sie dies nur könnten. Insofern setzt Habermas auf den richtigen Affekt. Damit hat es sich aber auch schon.

Mehr als eine diffuse Gefühlsregung vermag der Begriff der »Globalisierung« nicht zu vermitteln. Wo aber nur allzu gerne geglaubt wird, dass ohnehin alle Mächtigen unter einer Decke stecken, richtet sich der Unmut bereitwillig selbst gegen jene Regierungen im alten Europa, die sich am auffälligsten gegen den gemeinsamen Feind Amerika profiliert haben. Aus der dumpfen Ablehnung einer »amerikanischen« Weltordnung entsteht nämlich keine Unterstützung für eine europäische, sondern die Ablehnung jeder Weltordnung.

Statt Enttäuschung sollte in Brüssel daher Erleichterung darüber herrschen, dass nur über die Verfassung abgestimmt wurde. Denn hätte man sie nur gelassen, so hätten die Menschen gleich auch die ganze EU, die Währungsunion, den Papst und den europäischen Schlager abgewählt. Was dann bliebe, weiß nicht einmal Habermas zu prophezeien. So trifft, was für die europäische Verfassung gilt, auch auf die Theorien des alten Europa zu: Man muss kein Arzt sein, um zu erkennen, dass man es mit einer Leiche zu tun hat.