Europäische Kontinuität

Das Scheitern der Referenden in Frankreich und den Niederlanden eröffnet keine Perspektive für die radikale Linke. von jan rudisleben

Der Protest gegen den EU-Gipfel am kommenden Wochenende in Luxemburg scheint sympathisch. Statt wie im Rahmen der Antiglobalisierungsbewegung üblich, für das sozialere, friedlichere, zivilere, kurz das bessere Europa einzutreten, soll der Protest diesmal nicht die Europäisierung von links betreiben, sondern das Identitätsangebot EU ablehnen. Wie schwer ein solcher Perspektivenwechsel fällt, zeigt sich jedoch bereits jetzt. So konstatierte die Trierer Gruppe Lif:t nach der Ablehnung der EU-Verfassung in Frankreich und den Niederlanden: »Es ist auf einmal ein politischer Raum geöffnet worden, der gefüllt werden kann. Das stellt die Linke vor die ungewohnte Möglichkeit, agieren zu können.« Und weiter: »Die Debatte um die EU-Verfassung war notwendig verkürzt, sie hat einige Sollbruchstellen freigelegt, nicht mehr und nicht weniger. Jetzt muss nachgelegt werden.«

Auch wenn dem kapitalistischen Charakter der EU und der Kritik an der Konstruktion ihrer Identität eine zentrale Rolle eingeräumt werden soll, offenbart der Traum vom bestellten politischen Feld und der nur noch unter dem Motto »Ja zu einer emanzipatorischen Alternative« zu sammelnden und zu radikalisierenden Masse doch eine Fehleinschätzung des tatsächlichen Standes des europäischen Projekts und der Integrationskraft, die es längst entfaltet hat.

Wie es um dieses Projekt steht, macht die Ablehnung der EU-Verfassung deutlich. Auf der vertraglichen Ebene kann man diesen Rückschlag vernachlässigen. Zwar behindert er die Verwirklichung der dort vereinbarten strukturellen Veränderungen, doch es existieren verschiedene Modelle, wie die vertragliche Weiterentwicklung der EU voranzutreiben ist. Möglicherweise werden die wichtigen Teile des Verfassungsentwurfs einfach einzeln verabschiedet, oder sie werden in der europäischen Manier, in der auch andere vertragliche Großprojekte wie das Schengener Abkommen oder der Euro durchgesetzt wurden, zunächst nur von einem Teil der EU-Staaten beschlossen, um eine Realität zu schaffen, der die anderen sich später beugen müssen.

Auf dieser technokratischen Ebene wurde die Bezeichnung »Verfassung« für das Vertragswerk ohnehin als störend empfunden. Entsprechend gelassen reagierten die Institutionen der deutschen Wirtschaft auf das Scheitern des Referendums in Frankreich. Der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertags, Ludwig Georg Braun, sagte der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: »Die Integration geht weiter, wenn auch leider weniger schnell.« Die größte Sorge bestand in Kreisen der Wirtschaft darin, die EU-Kommission könne den im Referendum zum Ausdruck gekommenen Unmut zum Anlass nehmen, ihre Liberalisierungsprojekte abzuschwächen oder zu verlangsamen.

Der Wert der »Verfassung« und der mit ihrer Verabschiedung einhergehenden Diskussion lag aber nicht auf der Ebene der vertraglichen Entwicklung der EU, sondern in der Vermittlung der Bedeutung, die die EU längst erreicht hat. Die Bezeichnung »Verfassung« zielt auf die Festigung der europäischen Identität der Menschen in den EU-Staaten. Doch auch für dieses Vorhaben sind weder die französische noch die niederländische Ablehnung ein Rückschlag. Im Gegenteil, gerade durch sie bekommt die schon wieder eingeschlafene Debatte um die europäische Identität neuen Schwung. Wäre bei einer knappen Annahme des Verfassungsentwurfs in Frankreich wieder Ruhe eingekehrt in der Auseinandersetzung über die Frage, warum die Zukunft nur Europa heißen könne und wie die europäische Identität beschaffen sei, so blüht jetzt wieder die Phantasie auf der Suche nach identitätsstiftenden Momenten.

Vor allem die Vorstellung, die EU könne zu einem Bollwerk gegen den Neoliberalismus werden und eine effektive antiamerikanische Gegenmacht bilden, regt die europäische Phantasie an. Gelinge die politische Einigung Europas nicht, schreibt der um den Titel »Philosoph der europäischen Einigung« ringende Jürgen Habermas in einem programmatischen Text für die Süddeutsche Zeitung, so führe das zur »Befriedigung der Marktliberalen, die nichts so sehr fürchten wie die kapitalismuszähmenden Interventionen der Staatsgewalt«, und zum »Abdriften unseres ökonomisch geeinten, aber als politische Größe zerfallenden Kontinents in den gesellschaftspolitischen Sog der Hegemonialmacht«.

Dass mit den »Marktliberalen« aber auch nur jene gemeint sind, die das US-amerikanische Modell des Kapitalismus vertreten, wird spätestens dann klar, wenn Habermas über Angela Merkel bemerkt: »Unvergessen ist ihre Übung im peinlichen Ritual der Unterwerfung unter die bellizistische Regierung in Washington.« Es ist nicht die Kriegsbefürwortung, die hier im Mittelpunkt der Kritik steht, sondern der mangelnde Kampfgeist, das »Ritual der Unterwerfung« unter die USA.

Seine Argumentation kann nach Habermas nicht antiamerikanisch sein, weil seine amerikanischen Freunde in der Auseinandersetzung mit ihrer Regierung »verzweifelt« seien »über eine Europäische Union, die dabei ist, sich selbst abzuwickeln«. Doch all den anonymen Kronzeugen zum Trotz bleibt es Antiamerikanismus, die Auseinandersetzung in Amerika in eine zwischen den USA und Europa verwandeln zu wollen. Auch wenn es für Habermas kriecherische europäische Neoliberale und alteuropäisch demokratische Amerikanerinnen und Amerikaner gibt, plädieren seine Argumente für eine ideologische Unterscheidung zwischen Amerika und Europa, und seine Vorstellung des guten Amerika ist nichts anderes als der Traum von einer Welt unter deutsch-europäischer Hegemonie.

Mit der Annahme, die europäische Identität stehe gegen den Neoliberalismus und die USA, spricht Habermas auf sehr deutsche Weise aus, was dem Protest gegen die EU-Verfassung in Frankreich zum Erfolg verhalf. Während er nur am Rande an Fragen gesellschaftlicher Interessenkonflikte interessiert ist, regt sich gegen die immer wieder auch mit dem Hinweis auf die EU durchgesetzte Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums ein Widerstand, der sich aber nur auf die aktuellen Veränderungen bezieht und seinen Feind in der Globalisierung und im Neoliberalismus, nicht aber in der kapitalistischen Organisation der Gesellschaft erblickt.

Folgerichtig betonte die französische Linke trotz ihrer Ablehnung der Verfassung immer wieder ihre Verbundenheit mit dem europäischen Projekt. Sie verhielt sich damit sogar noch europäischer als der Teil der Franzosen, der die EU-Verfassung befürwortete. Ihr europäisches Bewusstsein zeigte sie, indem sie einer »amerikanisierten« EU eine Absage erteilte. Dass dabei in Frankreich die effektive Interessenvertretung der arbeitenden Bevölkerung eher im Mittelpunkt der Diskussion stand, macht die Identifikation mit Europa zwar etwas unideologischer, ändert aber in der Konsequenz nichts daran, dass auch in Frankreich nicht darüber gestritten wurde, ob die EU gestärkt werden solle, sondern nur noch darüber, wie.

Die These Anton Landgrafs, nun stehe das Konzept eines »Europas der Vaterländer« wieder auf der Tagesordnung (Jungle World, 23/2005), beruht auf einem Missverständnis. Zwar waren, wie er schreibt, die Anhänger Le Pens und Pim Fortuyns für die Mehrheitsverhältnisse in den Referenden wichtig, doch darf die arithmetische Bedeutung nicht zur politischen Überschätzung dieses Spektrums führen. Ohne die Vaterlandsverliebten hätte die Linke nicht gewinnen können, doch zusammen mit dem Teil der Gesellschaft, der für die Verfassung stimmte, ergibt sich eine überwältigende pro-europäische Mehrheit. Das hängt mit dem Realismus in der Bevölkerung zusammen, der nicht nur anerkennt, dass der Binnenmarkt und die europäische Einigung längst Wirklichkeit sind, sondern auch von links bis rechts das Argument teilt, dass eine geeinte EU eine Akkumulation von Macht auf dem Weltmarkt darstellt, gegen die die Bedeutung der Vaterländer stark abfällt.

Das nicht erkennen zu können, ist die außenpolitische Schwäche, an der nationale Populisten leiden. Wegen der daraus folgenden Bedeutungslosigkeit des Rechtspopulismus in europäischen Fragen brauchte sich die Linke auch nicht politisch damit auseinandersetzen, dass sie in der Ablehnung der Verfassung gemeinsame Sache mit den Rechten machte.

Aus all dem lässt sich leider nicht ersehen, wo in der Opposition gegen die EU-Verfassung Möglichkeiten eines Bündnisses für die den Gegengipfel in Luxemburg organisierenden Gruppen liegen könnten. Stattdessen ist zu befürchten, dass eine Annäherung dieser Gruppen an angeblich Verbündete nur von der Kritik der europäischen Formierung zum globalem Machtblock ablenkt. Denn ähnlich wie es einer gegen Deutschland gerichteten Kritik nicht darum gehen kann, nach Gemeinsamkeiten mit den am hegemonialen Deutschtum partizipierenden gesellschaftlichen Kräften zu suchen, wird die radikale Linke wohl in den nächsten Jahren kaum darüber hinauskommen, ihre Kritik an Europa zu formulieren und polarisierende Formen der Darstellung ihrer Meinung zu entwickeln.

Der Autor ist Mitglied im Bündnis gegen Rechts, Leipzig. Weitere Texte zum Thema unter www.nadir.org/bgr.