Stillgestanden!

Projekt Große Koalition von ivo bozic
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Natürlich, es ist reine Spekulation. Aber wenn die »Sozialiban« (Harald Schmidt) um Lafontaine und Gysi ein ordentliches Bündnis hinbekommen und wenn der erste Merkel-Hype verklungen ist, wer weiß, vielleicht wird es ja am Ende doch noch einmal eng für Union und FDP bei der Bundestagswahl im Herbst. Müntefering jedenfalls wäre bereit, wie er bereits erklärt hat, und Grüne wie Daniel Cohn-Bendit sind ohnehin nicht mehr scharf auf die Zusammenarbeit mit den Sozis.

Eine Große Koalition gilt gemeinhin als das schlimmste Szenario. Als es im Jahr 1966 zum ersten und bisher letzten Mal auf Bundesebene dazu kam, sah es Hans Magnus Enzensberger im Times Literary Supplement ganz klar und ohne Konjunktiv: »Das Ende der zweiten deutschen Demokratie ist absehbar.« Mit der Großen Koalition habe der Souverän, das Volk, jeden Einfluss auf die Regierung verloren, und daher führe kein Weg mehr an der Revolution vorbei: »Das politische System in der Bundesrepublik lässt sich nicht mehr reparieren. Wir können ihm nur zustimmen oder wir müssen es durch ein neues System ersetzen. Tertium non dabitur.«

Der Spiegel griff diese These auf und veröffentlichte 1967 ein kleines Büchlein mit dem ernst gemeinten Titel: »Ist eine Revolution unvermeidlich?« 42 Schriftsteller und Intellektuelle antworteten darin auf Enzensberger. Auch die Apo, also die außerparlamentarische Opposition, ja die ganze 68er-Bewegung, wird in vielen Geschichtsbüchern als Antwort zwar nicht auf Enzensberger, aber auf die Große Koalition beschrieben.

Dass Enzensberger eine Merkel-Münte-Koalition heute ähnlich kommentieren und der Spiegel erneut die Frage nach der Revolution stellen würde, das mag bezweifelt werden. Die Verbrüderung der so genannten Volksparteien ist alles andere als die perfekte Ausgangslage für die außerparlamentarische Linke, für die Revolution. Was 1967 schon falsch war, ist 2005 noch falscher. Und es ist auch weit und breit niemand in Sicht, der sich ernsthaft Sorgen um den sozialen Frieden macht. Denn die Unzufriedenen stürmen nicht den Reichstag, sondern wählen Merkel, die NPD oder die Linkspartei. Oder sie verprügeln ihren Hund.

Vielmehr droht das Gegenteil einer Revolution: »Eine Große Koalition bedeutet vor allem Stillstand«, erklärte der Generalsekretär der FDP, Dirk Niebel, kürzlich in der Jungle World (12/05). In diesem Punkt scheinen sich alle einig zu sein; so ziemlich jeder Politiker hat schon einmal Ähnliches geäußert. Und Stillstand, das scheint das Schlimmste zu sein, die größte Bedrohung.

Doch wenn schon keine Revolution zu haben ist, sollte uns dann Stillstand nicht als das »kleinere Übel« erscheinen, nach dem immer alle suchen? Wenn die Alternative zu den rot-grünen Sozialabwicklern die schwarz-gelben Sozialabwickler sind; wenn es nur noch darum geht, wer die Schrauben schneller anzieht, wer zuerst die nächste Sozialleistung streicht, die Bundeswehr in den nächsten Krieg schickt, Flüchtlinge konsequenter abschiebt und die elektronischen Fußfesseln verteilt: Wird man vor diese Alternative gestellt, erscheint das Wort Stillstand wie ein Heilsversprechen, wie ein Evangelium, wie ein guter Stern, der am Horizont leuchtet. Wenn du in einem Zug sitzt, der geradewegs auf eine Wand zufährt, interessiert es dich nicht, wer der Lokführer ist, da gibt’s nur eines: Halt! Stillgestanden! Große Koalition! Merkel und Münte, wäre das nicht ohnehin ein charmantes Pärchen?