Die klügere Bevölkerung

Notizen und Kolportagen über aufständische und unbequeme Menschen aus Bayern. Von Egon Günther

Die längste Zeit waren Menschen in Landschaften zuhause oder vielmehr unterwegs, nicht in Nationen oder Staaten. Deren armselige patriotische Ausstattung ist bloß noch ein auf das äußerste reduzierter und trister Abklatsch der Bilder, die sich im Verlauf dieser ursprünglichen und wechselseitigen Prägung gefestigt haben. Das Gespür für die in einer Landschaft enthaltene mentale Chiffre und für die ihr damit zugrunde liegende utopische Botschaft findet beispielsweise in der Dichtung »Der Versucher« von Hermann Broch einen wunderbaren Ausdruck. In diesem österreichischen Berg- und Bauernroman ist ihm das Land ringsum, sind ihm die Wellen der Wälder »Kontinent und Ozean eines Traumes, durch den ich ging und durch den ich gehe, alle Bilder der Welt in mir aufbewahrend, sie in mir erzeugend und trotzdem selber in ihnen aufbewahrt und erzeugt, Traum, der ich selber bin …«

Es ist wohl wahr – solche Stimmung, solch enthobener und erhebender Blick mag sich nur in den allerseltensten Fällen einstellen. Der Alltag und das Überleben fordern meist ihren Tribut, die Gewohnheit tut ihr Werk, allzu viele Einzelheiten lenken ab, der eigenwillige Kosmos der Waren erzeugenden Gesellschaft öffnet sich und beansprucht vitale Energien. »Oft scheint die Innerheit der Welt umwölkt, verschlossen / Des Menschen Sinn, von Zweifeln voll, verdrossen (Hölderlin)«, der Umkreis wird als Alp erfahren.

Man ist bedrückt und muss, will ihm entfliehen, und oft genug träumt man davon, sich nach Belieben etwa in den verheißungsvoll imaginierten Wäldern von Maine, in Karelien oder in den urbanen Landschaften von Paris und New York zu ergehen. Auch die Auswanderung hat ihre Geschichte. Lange, bevor Aussteigen zum erklärten Bedürfnis wurde, und lange vor den Verfolgungen und Vertreibungen der Nationalsozialisten, trieben die blanke Not und eine durch Feudalismus und Klassenschranken eingeschnürte Freiheit Knechte und Mägde, Dienstboten, Häusler und Handwerker »ins Amerika«, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Manche, die gingen, waren bestimmt erleichtert und voller Hoffnung. Doch unterm Strich gingen viele nicht aus freien Stücken, und viele, die seither kamen, sind ebenso wenig aus freien Stücken hier.

Geschichte wird als willkürlich empfunden. Die Sieger fälschen sie. Damit man nicht vor der Ungeheuerlichkeit aus Bestimmung und Zufall in Lähmung verfällt, damit man nicht buchstäblich am Boden kleben bleibt und wieder zu sich selbst kommt, muss zuweilen eine andere Geschichte aufgetan werden. Walter Benjamin sprach von der Schlüsselgewalt des Augenblicks über ein ganz bestimmtes, bis dahin verschlossenes Gemach der Vergangenheit. Wie ein Sucher seltener Steine und Kristalle, wie ein Strahler, der seine Schätze im Fels in der Fülle des für ihn überwiegend belanglos bleibenden Gesteins aufspürt und herausbricht, bergen wir so die uns in Form und Gehalt ansprechenden Lebensläufe aus einer Masse von Schicksalen, die uns entweder gleichgültig lassen oder gar anwidern.

Die bayerische Anomalie, die darin besteht, dass ein aus der Aufklärung rührendes autoritäres und dünkelhaftes Kanzleiwesen es verstanden hat, das Ressentiment »Los von Preußen!« folkloristisch mit der zerstörerischen Moderne zu verbinden, befördert wie von selbst die sonderbarsten Mythenbildungen. Die meisten kursierenden Fälschungen der Geschichte dienen dem Projekt rückwärtsgewandter Erneuerung; schon die Propheten beriefen sich auf Vergangenes und legten es eigenwillig aus. Insofern sind selbst die Tröstungen des eigentlich konservativen Mythos vom »anderen Bayern« eine Täuschung. Sei’s drum.

Die Projektion eines bestimmten, nahezu erdachten Landstrichs – der Chiemgau, das in einem besonderen Sinn bayerische Isartal, die weiten Wellen des Pfaffenwinkels und Fünfseenlands bis an den Rand der oft blauschwarz schimmernden Höhen vor der azurnen Glasmauer des Gebirges – wird durchquert von Gestalten, die es uns angetan haben. Es sind Flüchtlinge, Verschleppte und Migranten, Verschwörer und widerwillige Rebellen, Geschlagene oder Hoffende, Agitatoren und Renegaten. Sie kommen irgendwoher und gehen irgendwohin, manche in ein ungewisses Schicksal. Auf etliche warten Gefängnis und Zuchthaus, sogar der Galgen.

Die meisten wird man nicht so gut kennen wie Rilke, Salomé, die Manns, Brecht, Lawrence, von Richthofen, Meyrink, Sternheim und Horváth, Marc, Campendonk, Beckmann, Münter, Werefkin, Jawlensky, Corinth, Kandinsky, Macke und all die anderen Lebenskünstler, Exzentriker, Sommerfrischler und Mäzene, die zeitweise in diesem Landstrich liebten, lebten und dort auch einzigartige Werke schufen oder zumindest an der Entstehung solcher Werke beteiligt waren. Ihrer einst mitunter angefeindeter Aufenthalte rühmen sich die Landkreise und Gemeinden nun gerne in der Hoffnung, etwas von dem verblichenen Genius hafte noch an den alten Stätten und spüle das Geld der Kulturtouristen in ihre Kassen.

Bis auf wenige Ausnahmen wohnten unsere »Helden« aber nicht in pittoresken Häusern, Höfen und Künstlerkolonien, in ländlichen Sommerfrischen und Villinos entlang der lieblichen Gestade der Voralpenseen, über den Hängen des Isartals oder in anderen, nicht minder anmutigen Gegenden Oberbayerns. Sie kamen eher aus dem linken Milieu der städtischen Arbeiterviertel und erwanderten sich Land und Gebirge als »Naturfreunde« der Arbeiterkultur- und Arbeitersportbewegung. Oder sie siedelten selbst in unmittelbarer und ihnen oft missgünstig gesonnener Nachbarschaft bäuerlicher Kultur in regelrechten »proletarischen Provinzen« – wie die Bevölkerung der Bergarbeiterstadt Penzberg im Pfaffenwinkel.