Der Roman und die Republik

Die Literaten und der türkische Staat standen meist im Konflikt. Heute überwiegt das »Anything goes«. von a. ömer türkes

Romane und Erzählungen bewahren die Stimmung der Zeit, in der sie geschrieben wurden, führen uns die Farben und Töne der zwischenmenschlichen Beziehungen, die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse vor Augen. Aber wer in der türkischen Literatur Spuren der Geschichte der Republik sucht, wird nur wenig finden. Dennoch können wir von Romanen sprechen, die gesellschaftliche Verhältnisse thematisieren, die durch geschichtliche Ereignisse zustande gekommen sind und zumindest die emotionale und die geistige Welt von Intellektuellen ausdrücken. Der Grund dieser Beschränkung in der literarischen Darstellung waren politische Repressalien, durch welche den Autoren die Möglichkeit entzogen wurde, ihre eigene Sicht auf die Geschichte wiederzugeben. Stattdessen wollte man die Schriftsteller auf eine einheitliche, staatlich verordnete Darstellung der Geschichte festlegen.

In der Prosa der frühen Phase der türkischen Republik lassen sich verschiedene Strömungen erkennen. Eine Gruppe waren jene Istanbuler Intellektuellen, die ihre Karrieren bereits zu osmanischer Zeit begonnen hatten und die für die von der Republik versprochenen radikalen Neuerungen keine sonderlichen Sympathien empfanden. Dieser Gruppe genau entgegengesetzt war der Kreis von Autoren, die sich den republikanischen Idealen verbunden fühlten. Beim Aufbau der Republik übernahmen sie die Aufgabe von Pionieren und kämpften als Aufklärer gegen die Reaktion und das feudale Erbe des Osmanischen Reichs. Dasselbe Engagement schlug sich in zeitgenössischen populären Liebes- und Abenteuerromanen nieder. Eine dritte Gruppe von Schriftstellern, für die ideelle und moralische Fragen im Mittelpunkt standen, vergrub sich in die Auseinandersetzung zwischen Orient und Okzident.

Keine dieser Strömungen, die allesamt einen relativ klaren Wertekanon hatten, den sie auch zur Grundlage ihrer literarischen Arbeiten machten, hatte die Absicht, die Klassenstruktur der neuen Republik zu thematisieren, die wirtschaftliche Probleme aufzugreifen oder das Leben armer Menschen in realistischer Weise wiederzugeben.

Doch in denselben Jahren trat auch eine junge, wütende Generation von Autoren auf den Plan, die ein Bewusstsein für gesellschaftliche Probleme hatte und die literarische Welt in einer Weise aufwirbelte, die die Grenzen der Literatur sprengen sollte. Die Prosa dieser jungen Generation war ihre Antwort auf die Begeisterung, die Nazım Hikmet mit seiner Lyrik hervorgerufen hatte. Die jungen Schriftsteller hatten verbittert festgestellt, dass die Versprechen der Republik nicht eingehalten worden waren und auch künftig nicht eingelöst würden. Doch politische Repressalien auf der einen und der fehlende radikale Bruch mit dem Kemalismus auf der andren Seite sorgten dafür, dass sich ihre Kritik auf die Unvollständigkeit des republikanischen Projekts beschränkte.

Die fünfziger Jahre waren die Ära der Demokratischen Partei, die nach drei Jahrzehnten die kemalistische Regierungspartei abgelöst hatte. In Abgrenzung zu ihrer Vorgängerin bemühte sie sich darum, ihre Verbundenheit zur einfachen Bevölkerung zu demonstrieren und die Bauern zu umwerben. Viele Schriftsteller setzten anfangs große Hoffnungen in die neuen Machthaber, wandten sich aber recht schnell von ihnen ab und begannen, sie vehement zu kritisieren. In dieser Zeit fanden die Beziehungen zwischen der Arbeiterschaft und der Bourgeoisie oder zwischen der Stadt- und Landbevölkerung sowie Themen wie Armut und Ungerechtigkeit immer häufiger ihren Weg in den Roman. Diese Generation neuer linker Autoren hatte ihre anfängliche Scheu vor der Repression abgelegt und war mit einer eigenen Romankultur aufgewachsen. Es war die Zeit des »Dorfromans«.

Kaum literarisch aufgearbeitet wurden hingegen vor allem die Grausamkeiten und die Gewalt gegen ethnische und religiöse Minderheiten, wie während der kurdischen Aufstände in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre, in der Zeit der Kopfsteuer auf Juden und Christen in den vierziger Jahren oder der Plünderungen vom September 1955 und der Abwanderungen großer Teile der nichtmuslimischen Bevölkerung.

Die sechziger Jahre wurden mit dem Putsch vom 27. Mai 1960 eingeleitet. Die neuen verfassungsrechtlichen Freiheiten, die die jungen Putschisten gewährten, führten dazu, dass die allermeisten Intellektuellen und Schriftsteller die Militärintervention wohlwollend betrachteten.

In der demokratischen Atmosphäre, die sich nach dem Putsch ausbreitete, entstand auch erstmals eine größere Arbeiterbewegung. Während auf der einen Seite korporatistische Gewerkschaften entstanden, organisierte sich auf der anderen die Konföderation der Revolutionären Arbeitergewerkschaften (Disk). Gegen Ende der sechziger Jahre erschienen mehr und mehr Romane, die die Studentenrebellionen und staatlichen Repressionen thematisierten. Fast schien es, als kündigten sie einen neuen Putsch an, der allerdings einen ganz anderen Charakter haben sollte: den Putsch vom 12. März 1971.

Diese Intervention der Generäle und ein bis dahin nicht ungekanntes Ausmaß der Repression und der Gewalt sollten in der Prosa, aber auch in der Lyrik und der Musik einen zentralen Platz einnehmen. Doch die guten Vorsätze, mit denen in den folgenden Jahren die nächste Generation von Schriftstellern antrat, genügten nicht, um auch gute Literatur zu schaffen. Trotz ihres Anspruchs auf »Realismus« war die Wahrheit, die Schriftsteller mit linken Ansichten präsentierten, ihre politische Sicht der Dinge, während Autoren, bei denen eher eine romantische Sympathie für die Jugend überwog, aus einer humanistischen Sicht schrieben. Die linke Bewegung wurde von diesen Schriftstellern mit Begriffen wie »Unschuld«, »Patriotismus«, »Volksverbundenheit« und »Opferbereitschaft« charakterisiert und zu einer Jugendrevolte reduziert, wobei die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Hintergründe des Putsches ebenso vergessen wurden wie die marxistisch-leninistische Orientierung der Bewegung.

Die Schriftsteller versuchten zwar, sich mit der revolutionären Bewegung zu verbünden, interpretierten diese aber innerhalb ihrer eigenen ideologischen Vorstellungen. Sie versuchten, die revolutionären Aktivisten an den Kemalismus anzubinden, um sie dadurch als legitime und gutwillige Kinder der Republik darzustellen.

In der Literatur der siebziger Jahre spiegelte sich die Niederlage der 68er-Generation wider. Erzählt wurde von Gefängnis und Folter, von den schmerzlichen Erlebnissen der linken Aktivisten und ihren inneren Abrechnungen. Die Aktivisten erschienen in diesen Romanen und Erzählungen als passive und unbefleckte Charaktere, erzählt wurden ihre Geschichten vom Moment ihrer Festnahme. Im Mittelpunkt stand die Psychologie der Besiegten, nicht deren Weltsicht oder die Gründe für ihre Rebellion.

Hatten die Autoren der siebziger Jahre die Aktionen der Arbeiter und der Studenten nicht abgelehnt, sondern sogar idealisiert, bewirkte der Putsch vom 12. September 1980 das genaue Gegenteil. In den ersten literarischen Werken, die nach dem Putsch erschien, ist deutlich zu erkennen, wie der gegen die Linke gerichtete Diskurs der Militärs übernommen und verinnerlicht wurde. Es galt, mit den bewegten siebziger Jahren abzurechnen, wobei es aber die Linke und die sozialen Beziehungen innerhalb der Linken waren, mit denen man abrechnete. Die Militärinterventionen von 1971 und 1980 wurden als Folgen einer falschen linken Politik und des Konkurses des Sozialismus gewertet; übrig blieb nur die Erinnerung an despotische Organisationsstrukturen, Gewalttaten, Niederlage, Paralysierung und Reue.

Literaten, die sich weiterhin als Oppositionelle verstanden, fanden hingegen keinen Anklang mehr. Die Autoren, die oft aus den politischen Bewegungen stammten und unglaubliche Folterungen erlitten hatten, suchten nach Erklärungen für die große Niederlage, die der Putsch von 1980 für die Linke bedeutete. Vielleicht war für sie die Literatur ein Mittel, um in einer Welt, die ihnen kaum fassbare Schmerzen zugefügt hatte, den Verstand zu bewahren, vielleicht hatten sie auch vergeblich die Hoffnung, mit ihrer Stimme doch noch verschlossene Herzen erreichen zu können.

Bei der Betrachtung der gegenwärtigen Literaturlandschaft fällt auf, dass die Auflagenzahlen zwar zurückgehen, dafür aber die Zahl der Romane stetig steigt. So wurde im Jahr 2005 mit 270 neu veröffentlichten Romanen ein Rekord aufgestellt. Woher dieses gewaltige Bedürfnis, sich mitzuteilen, herrührt, wie lange dieses Tempo noch anhalten kann und welches Erbe davon übrigbleiben mag, lässt sich momentan nur erahnen. Eine Erklärung für dieses Bedürfnis könnte in dem Umstand liegen, dass die Menschen seit den achtziger Jahren mehr und mehr der Mittel beraubt wurden, sich im öffentlichen Bereich zu artikulieren, während die gleiche Zeit als die Ära der Kommunikation bezeichnet wird.

Das einzige Erfreuliche an dieser quantitativen Zunahme ist die damit verbundene Vielfalt der Genres. Allerdings nehmen die Erzählformen, Personen und Charaktere trotz der vielfältigen Palette der Kulturindustrie, die verschiedente literarische Genres wie Krimis, Romanzen, Science-Fiction, historische Erzählungen, postmoderne Phantasien und politische Novellen beinhaltet, nicht zu. Die Autoren konzentrieren sich darauf, interessante Themen zu finden oder den Leser zu überraschen, statt stilistisch zu experimentieren. Generell ergeben sich die Geschichten dann auch aus dem Privatleben, aus dem Klischee »Mein Leben selbst ist ein Roman« wird heute tatsächlich Literatur.

A. Ömer Türkes ist Literaturkritiker und schreibt für die Tageszeitung Radikal, die Kulturzeitschrift Kaçak Yayın und die Literaturzeitschrift Virgül.