Lakaien des Nationalismus

Die türkische Linke und die Europäische Union. von ömer laçiner

Mögen die politischen Parteien Europas allmählich an Kontur verlieren und mag dieser Verlust auf Seiten der Linken besonders groß sein, so ist die Haltung der Parteien zur Europäischen Union dennoch ein Maßstab. In ihrer Sicht auf die EU ist die europäische Linke einem ihrer Grundwerte, dem Internationalismus, treu. Mehr als alle anderen haben diese Parteien das Ziel der EU ernst genommen, Ethnien, Konfessionen und Religionen, die einander Jahrhunderte lang bekämpft haben, in einer Gesellschaft zu vereinen, und haben so maßgeblich dazu beigetragen, eine Perspektive zu entwickeln, die über die traditionellen Grenzen des kontinentalen Europas hinausgeht. Als die Türkei auf dem EU-Gipfel in Helsinki im Dezember 1999 offiziell als Kandidatin anerkannt wurde, geschah dies zu einem Zeitpunkt, als in nahezu allen Mitgliedsstaaten linke Parteien an der Regierung waren.

Anders sieht die Lage in Ländern an der europäischen Peripherie aus, auch in der Türkei. Die EU wird von hier aus in den Kontext von Unterdrückung und Ausbeutung durch den Westen eingeordnet und von einem antiimperialistischen Standpunkt aus kritisiert. Da der Antiimperialismus stets verdeckte, aber starke nationalistische Züge aufwies, vermochte es die hiesige Linke nie, die internationalistische Komponente des EU-Projekts anzuerkennen.

Aus diesem Grund stehen fast alle Parteien und Organisationen, die sich als links verstehen, einem Beitritt der Türkei zur EU ablehnend, reserviert oder zumindest skeptisch gegenüber. Dieser Standpunkt stammt noch aus den siebziger Jahren, als erstmals ernsthaft darüber diskutiert wurde, ob die Türkei dem gemeinsamen Markt beitreten solle. Damals wandte sich die Linke ganz entschieden gegen einen Beitritt, weil man davon ausging, dass davon nur die EG profitieren würde, während sich die Türkei durch die Öffnung ihrer Märkte ausliefern würde.

Die Mehrheit der türkischen Linken ist heute nach wie vor der Ansicht, dass es sich bei der Europäischen Union um nichts anderes handelt als um ein Projekt zur Ausweitung der Hegemonie des westlichen Imperialismus und des europäischen Großkapitals. Einerseits hat inzwischen ein Teil des linken Spektrums seine Argumentation gegen die EU entschärft, es gibt sogar Stimmen, die sich für einen Beitritt aussprechen. Andererseits gibt es Strömungen wie etwa die ehemals maoistische Arbeiterpartei (IP), die in ihrer radikalen und chauvinistischen Ablehnung der EU mit fanatischen Religiösen und nationalistischen Kräften konkurriert. Jene, die grundsätzlich einen EU-Beitritt befürworten und selbst innerhalb der sozialdemokratischen Parteien oder der diversen kleineren sozialistischen oder neulinken Organisationen und Zirkel in der Minderheit sind, werden immer wieder als »Lakaien des Imperialismus« beschimpft.

Andererseits sind sich die weitaus meisten linken und sozialistischen Gruppen und Bewegungen, einschließlich der sozialdemokratischen CHP, darüber im Klaren, dass die im Zuge der »Anpassung an die Kopenhagener Kriterien« durchgeführten politischen und juristischen Reformen ohne eine Orientierung an der EU noch lange auf sich hätten warten lassen. Sie wissen auch, dass diese Maßnahmen, auf die sich der Staat und die Regierung nur aufgrund der Hoffnung auf einen EU-Beitritt einließen, nicht in die Tat umgesetzt oder gar einkassiert werden können, falls sich die Politik der EU gegenüber der Türkei ändern sollte. Auch die kurdische Bewegung, die in Sachen Demokratisierung und Menschenrechte in einer Reihe mit der Linken steht, weiß, dass allein die EU ein Gegengewicht zur Armee und zum Nationalismus ist.

Allerdings ist der gesellschaftliche Einfluss der Linken seit geraumer Zeit im Schwinden, die parlamentarische Linke hat Schwierigkeiten, auch nur ein Viertel der Wählerstimmen zu gewinnen. Nicht zuletzt deshalb ist in der Türkei der Beitritt zur EU eine Sache des Staats, ein Ziel, das von sämtlichen Parteien der Rechten und der Mitte verfolgt wurde, die in den vergangenen Jahren die Regierung stellten. Zudem hat die Linke in Folge der demokratischen Reformen der jüngsten Zeit ihr wichtigstes Thema der achtziger und neunziger Jahre, Demokratie und Menschenrechte, aus der Hand gegeben und damit ihre letzte wichtige Funktion eingebüßt.

Natürlich hätte die Linke daraus die Konsequenz ziehen können, sich dem schwierigsten Aspekt der Debatte um die EU-Mitgliedschaft, nämlich der gesellschaftlich-kulturellen Integration, zuzuwenden und gleichzeitig eine fruchtbare Grundlage für die Diskussion und Zusammenarbeit mit der europäischen Linken zu schaffen. Zwar haben Teile der sozialistischen Linken Versuche in diese Richtung unternommen. Allerdings blieben diese Initiativen folgenlos, zumal die antitürkische Stimmung, die sich in der europäischen Öffentlichkeit nach dem EU-Gipfel vom Dezember letzten Jahres, als der Türkei der Termin für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen genannt wurde, in aller Deutlichkeit artikulierte, allen weiteren Versuchen nicht gerade nützlich war. Im Gegenteil, die jüngsten Debatten in der EU haben in dem Teil der Linken und der Bevölkerung, die einen Beitritt möchten, eine große Enttäuschung hervorgerufen.

Da sich diese antitürkische Kampagne vor allem auf die Reisefreiheit für türkische Arbeitskräfte konzentrierte und mit einer allgemeinen Zustimmung der europäischen Bevölkerung rechnen konnte, während europäische Linke und Gewerkschaften dies allenfalls mit Schweigen zu kommentieren wussten, war es der türkischen Linken auch nicht möglich, auf die neuerliche nationalistische Welle im Land mit dem »Gegengift« des Internationalismus zu antworten.

Seitdem in Europa die Vorbehalte gegen die Türkei so deutlich ausgesprochen werden, ertönen auch die nationalistischen türkischen Stimmen gegen die EU deutlicher, entschlossener und aggressiver als je zuvor. Die türkischen Nationalisten aller Parteien, wegen der kurdischen Autonomie im Nordirak derzeit ohnehin gestärkt, haben begonnen, auch das Ziel einer türkischen Vollmitgliedschaft in der EU in Frage zu stellen, und können Zuwachs verzeichnen. Die meisten türkischen Linken aber versuchen nicht, sich dieser Stimmung entgegenzustellen, sondern bemühen sich, von diesem Nationalismus zu profitieren, indem sie selbst Nationalismus mit Antiimperialismus verquicken.

Angesichts dessen ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Linke in der Türkei auf absehbare Zeit zu einer wirkungsvollen Kraft werden könnte, so gut wie ausgeschlossen. Nicht die Arbeiterbewegung, sondern die Bewegung von Studenten und Intellektuellen hat dafür gesorgt, dass die türkische Linke in den siebziger Jahren eine Schlagkraft entwickeln konnte. Diese Kraft hat sie längst verloren. Mag ihr geistiger Einfluss unter den Intellektuellen sowie in einigen Medien und zivilgesellschaftlichen Institutionen auch etwas größer sein, als ihr Stimmanteil bei Wahlen nahe legen könnte, kann dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Linke in der EU-Frage ebenso einflusslos ist wie in den anderen politischen Fragen auch.

Ömer Laçiner ist Chefredakteur der gesellschafts- und kulturkritischen Monatszeitschrift Birikim.