Türkischer Standard

Die EU, der Kemalismus und das Verbot der kurdischen Zeitung Özgür Politika von ragip zarakolu

Die Türkei befindet sich in einem wichtigen Reformprozess. Gleichzeitig sieht sie sich mit wichtigen strukturellen Problemen konfrontiert. Diese Probleme fußen auf dem schweren totalitären Erbe des politischen Systems. Es ist keine Frage, dass die Türkei mit ihrer Geschichte, ihrer Kultur ein Teil Europas ist. Das Osmanische Reich unternahm bereits Mitte des 19. Jahrhunderts Reformen. Mit den Balkankriegen und der anschließenden Vertreibung der muslimischen Bevölkerung, dem Genozid an den Armeniern und der Zwangsmigration fast aller Christen endeten diese Reformen. Die Bemühung, ein multinationales Imperium in einen Nationalstaat zu verwandeln, hatte schwer wiegende Folgen.

Eine dieser Folgen für die Türkei war ein die Bürger bevormundender bürokratischer Staat, der in einer Verschmelzung von östlichem Despotismus und Modernität alles unter Kontrolle behalten will. Die Türkei ist das letzte Land Europas, das sein totalitäres Erbe derart pflegt. Aber Europa ist für dieses Erbe mitverantwortlich. Die Diskussion darüber, ob die Türkei Teil des europäischen Kulturerbes ist, ist falsch. Das Augenmerk sollte vielmehr auf die totalitäre Staatstradition gelenkt werden, die sich gegen jeden Wandel sträubt.

Doch diese Tradition wurde in der Vergangenheit wegen der geopolitischen Lage der Türkei und ihrer Nachbarschaft mit der Sowjetunion toleriert; die vermeintlichen antitotalitären Europäer haben dieses groteske Regime bewusst gebilligt. Wie Spanien mit seinem starken linken Potenzial dem Franco-Regime und Portugal dem Salazar-Regime überlassen wurden, so hat der Kemalismus für die Türkei aus europäischer Sicht kein Problem dargestellt.

Damit totalitäre Regime aufrechterhalten werden können, ist es nach einer Weile unabdingbar, Reformen durchzuführen, doch eben diese Reformprozesse sind meist der Anfang vom Ende der Regime. Daher pendeln totalitäre Regierungen fortwährend zwischen Reformen und Autoritarismus. Und letztendlich brechen sie zusammen. Ohne eine endgültige Loslösung vom Kemalismus ist für die Türkei eine wirkliche Transformation zu einem demokratischen Staat nicht möglich.

Die Kurden wollen mit ihrer Identität gleichberechtigte Bürger der Republik sein, ähnlich wie damals die Armenier im sich reformierenden Osmanischen Reich. Den Konservativen zufolge wäre das, entsprechend dem Schicksal der Osmanen, unser aller Ende. Eine paranoide Angst wird geschürt. Die größte Gefahr ist die Mobilisierung eines fanatischen nationalistischen Lynchmobs. Die Auslösung eines solchen Wahnsinns durch die militärbürokratischen Eliten, die ihre Privilegien nicht verlieren wollen, ist durchaus möglich. Es wird schon wieder versucht, den Hass zwischen der türkischen und der kurdischen Bevölkerung zu schüren. Den Preis werden beide zahlen. Die bewaffneten Auseinandersetzungen müssen daher unbedingt beendet und den Spannungen muss mit Beherrschung und Friedfertigkeit begegnet werden. An dem Reformprozess führt kein Weg vorbei.

Und was soll man angesichts dessen über das Verbot der Tageszeitung Özgür Politika in Deutschland sagen? Hat sich der EU-Mitgliedsstaat etwa entschieden, sich an die Standards der Türkei anzupassen?

Ragıp Zarakolu ist Sekretär des Pen in der Türkei; er schreibt u.a. für Gündem, die Schwesterzeitung von Özgür Politika.