Politik braucht mehr Seele

In der CDU/CSU wird die Kritik an Angela Merkel und am »Neoliberalismus« immer populärer. Politiker der Union fordern mehr Herz und Wärme in der Politik. von stefan wirner

Welcher linke Schuft denkt so über den Kapitalismus? »Eine Wirtschaftsordnung, in der Entlassungen regelmäßig mit Gewinnsteigerungen prämiert und mit Kurssteigerungen an der Börse honoriert werden, mag von Nobelpreisträgern der Ökonomie als der Weisheit letzter Schluss angepriesen werden. Das Volk aber versteht diese Logik nicht.« Oder so: »Der deregulierte Arbeitsmarkt wird als neues Patentrezept für Beschäftigung angepriesen. Aber was im Frühkapitalismus schon falsch war, das wird auch im Spätkapitalismus nicht richtig.«

Stimmt, das antikapitalistische Geraune stammt weder von Attac noch von Linksruck. Es war Norbert Blüm, der, wie gewohnt angereichert mit blumigen Metaphern, seine Kritik an der Sozialpolitik der Union in der Süddeutschen Zeitung darlegte. Ihm zufolge gibt es vor allem einen Verlierer der Bundestagswahl: den Neoliberalismus. »Es wird Herbst. Die Blätter des Neoliberalismus fallen weltweit«, dichtete der christdemokratische Rilke. Blüm verfasste ein Pamphlet, das, abzüglich seiner tiefen Poesie, durchaus als Erklärung von Attac zur Bundestagswahl hätte durchgehen können: »Nie war der Abstand zwischen Durchschnittslöhnen und Managergehältern größer. Gegenüber den Empfehlungen der Arbeitgeberfunktionäre zur Lohnzurückhaltung war die Heuchelei der Pharisäer geradezu stümperhaft.« In einer Pressemitteilung von Attac hieß es etwas sachlicher und weniger christlich: »Beide neoliberalen Lager haben verloren.«

Blüm, der »erfolgloseste Bundesminister aller Zeiten« und »Rangiermeister des sozialen Verschiebebahnhofs Deutschland« (Handelsblatt), steht momentan nicht alleine mit seiner Betonung der angeblich christlich-sozialen Wurzeln seiner Partei. Die Union habe »ein marktliberales Konzept vertreten und die eigentliche Aufgabe nicht gelöst – nämlich den Menschen Hoffnung zu geben und die Angst vor der Zukunft zu nehmen«, sagte etwa Heiner Geißler dem Kölner Stadt-Anzeiger.

Aber nicht nur die beiden üblichen Verdächtigen, die schon seit geraumer Zeit die Fürsprecher der Antiglobalisierungsbewegung bei den Konservativen mimen, lamentieren über den missratenen Wahlkampf der Union, über die unpopulären Ideen, die Mehrwertsteuer zu erhöhen, Schicht- und Nachtzuschläge zu streichen und die Tarifautonomie und den Kündigungsschutz einzuschränken. Auch die Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft (CDA) mahnt zu einer Besinnung auf die christliche Soziallehre. »Wir haben die Herzen der Menschen nicht erreicht«, moniert Karl-Josef Laumann vom CDA. »Diejenigen, die über die Entsozialdemokratisierung der CDU gejubelt haben, finden sich jetzt in einer Großen Koalition wieder.« Der Vorsitzende der CDA im Saarland, Ulrich Schacht, senkt das Haupt: »Wir haben die Wahl an den Werkbänken und auf den Parkbänken verloren.« So weit ist es in Deutschland gekommen: Nicht die »Frustrierten« im Osten, wie Edmund Stoiber befürchtete, sondern die Rentner und Penner auf den Parkbänken entscheiden über unser Schicksal!

Über Nacht sind auch wieder Politiker für einen Posten im Kabinett im Gespräch, die Merkel längst aus dem Weg geschafft zu haben glaubte, wie den früheren Gesundheitsminister Horst Seehofer (CSU). Er hatte sich gegen die Kopfpauschale im Gesundheitssystem gewandt und im Frühjahr die Vorstellung des Buches »Politik für alle« von Oskar Lafontaine übernommen. Bei dieser unheimlichen Begegnung der dritten Art im Bundespressehaus fiel es Seehofer sichtlich schwer, sich von Lafontaine abzugrenzen. Voller Hingabe attestierte er ihm einen »Tastsinn für seelische Stimmungen in der Bevölkerung«. (Jungle World, 11/05)

Seelenkunde allenthalben, vor allem in Bayern, wo die CSU bei der Bundestagswahl unter die Fünfzig-Prozent-Marke rutschte – ins weiß-blaue Fegefeuer. »Die Union hat sich ohne soziale Seele, mit vielen handwerklichen Fehlern und mit einer Kandidatin gezeigt, die viele von uns nicht wollten«, sagte der CSU-Sozialpolitiker Matthäus Strebl der Leipziger Volkszeitung. Kurz nach der Wahl hatte der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) bereits intern die »kühle und herzlose Sprache« kritisiert, in der das Wahlprogramm der Union abgefasst gewesen sei. Das Wahlprogramm hat allerdings Markus Söder, der Generalsekretär der CSU, maßgeblich mitgestaltet.

Günther Beckstein, der als Nachfolger von Stoiber im Amt des Ministerpräsidenten gehandelt wird, späht indes schon mal die Feinde außerhalb Bayerns aus, die es in Zukunft zu bekämpfen gelte. Die Union müsse »in Zukunft auch über die Grenzen der Privatisierung, der Deregulierung und des Wettbewerbs reden«, verlangte er in der Welt am Sonntag. Sie müsse »Distanz halten zu dieser Begriffsumwertung, dass Gemeinsinn plötzlich als schlecht gilt, Egoismus als gut und der Staat nur als Übel wahrgenommen wird. Diesen Ausfluss angloamerikanischen Denkens mögen Neoliberale begrüßen – wir nicht.«

Hinterher ist man immer schlauer, mag sich Merkel indes denken. Seit dem Wahlabend, an dem sie in der Berliner Runde in der ARD neben Schröder, Stoiber und Westerwelle kaum zu Wort kam, scheint sie abgetaucht zu sein. Bastelt sie im Hintergrund an einer neuen Strategie? Arbeitet sie sich in die deutsche Seelenkunde ein? Weil sie die angloamerikanische Gefahr nicht erkannte, weil sie herzlos und technokratisch handelte und das Wahlprogramm auf »physikalische Art« (Stoiber) formuliert war, hat sie nun zwei gravierende Probleme.

Einerseits wird durch die Kritik an ihrer Person ihre Stellung in den Koalitionsverhandlungen geschwächt. Wie Spiegel online berichtete, steige in der Bundestagsfraktion der SPD bereits die Lust, die Kandidatin im Bundestag in drei Wahlgängen durchfallen zu lassen und so Neuwahlen zu erzwingen. Sollte Schröder mit seinem machiavellistischen Gehabe am Ende Recht behalten?

Andererseits kann Merkel die Forderungen nach einer sozialeren Prägung christdemokratischer Politik kaum in Übereinstimmung mit dem bringen, was die Industrie von ihr erwartet. Das Gejammer Jürgen Thumanns, des Präsidenten des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), der sich vom Wahlergebnis »bitter enttäuscht« gezeigt hatte, dürfte ihr inzwischen selbst auf die Nerven gehen. Weiß sie doch auch, dass große Unternehmen »längst nicht mehr am Gängelband der jeweils Regierenden hängen«, wie es das Manager Magazin kürzlich formulierte. Wozu noch Demokratie, Wahlen und das ganze Brimborium, denkt sich der Unternehmer von heute. Viele global agierende deutsche Konzerne hätten ihre Produktion zum Teil längst in Niedriglohnländer verlagert. Das Wirtschaftsblatt resümiert genussvoll: »Der angenehme Nebeneffekt dieser höheren Mobilität: Der Druck am Heimatstandort wächst. Arbeitnehmer in Deutschland sind immer mehr zu Kompromissen bereit und haben sich in den jüngsten Lohnrunden zurückgehalten.«

Wer auch immer die Kanzlerschaft antritt, er oder sie steht vor einer poetischen Herausforderung. Es gilt, den Abbau des Sozialsystems und der Rechte der Lohnabhängigen, der von den Eliten nach wie vor gefordert wird, wenigstens in einer herzlichen und warmen Sprache anzukündigen. Vielleicht mit Metaphern aus dem Sprachschatz Norbert Blüms.