Mit Gottes Hilfe durch die Wüste

Für den Traum von einem besseren Leben nehmen sie große Gefahren auf sich. Doch der Weg ins vermeintliche europäische Paradies endet für viele Flüchtlinge in der marokkanischen Hölle. von alfred hackensberger, ceuta

Nur Gott alleine haben wir es zu verdanken, dass wir hier sind«, sagen John und William. Der eine deutet dabei ergriffen mit der Hand nach oben, der andere bekreuzigt sich. Sie gehören zu den 163 Immigranten, die vor zwei Wochen den Sprung über den Grenzzaun der spanischen Exklave Ceuta schafften. Beide sind Mitte zwanzig, Studenten aus dem Sudan, aus der Krisenregion Darfur, wie sie sagen. Papiere haben sie allerdings nicht, die dies beweisen könnten. »Das ist völlig normal«, meint Frederico Barroela von der Organisation »Ärzte ohne Grenzen« in Tanger. »Auf der langen Reise von Afrika durch die Wüste kann man so etwas leicht verlieren.«

William und John haben ihre Papiere allerdings nicht verloren. »Die marokkanische Polizei hat uns alles abgenommen, was wir besaßen«, erzählt John. »Und dazu haben sie uns noch verprügelt«, fügt William wütend an und zeigt eine große Narbe auf dem Kopf. Gewalt gegen Immigranten gehört bei der marokkanischen Polizei zur Tagesordnung. Bei Razzien oder Kontrollen wird nicht lange gefackelt, vom Schlagstock Gebrauch gemacht und den Flüchtlingen Hab und Gut geraubt. »In einigen Fällen wurden Frauen vergewaltigt«, berichtet Barroela. Bei der Arbeit mit Immigranten in Marokko konnte seine Organisation im Zeitraum von zwei Jahren 2 193 Verletzungen durch Gewalteinwirkung dokumentieren.

John und William waren insgesamt ein Jahr und sechs Monate unterwegs, bis sie endlich in Ceuta anlangten. Zweimal wurden sie an die algerische Grenze deportiert, kehrten aber jedes Mal zurück. »Ich habe keine Eltern, keine Familie mehr«, erzählt William mit den dicken Rastalocken. »Das hier ist jetzt meine Familie, meine Heimat«, spricht er in den großen leeren Speisesaal des Weißen Kreuzes in Ceuta hinein, wo sie vorläufig untergebracht sind. »Bald geht es aufs spanische Festland«, sagt William lächelnd. »Dort wird uns Gott weiter führen, Arbeit und eine Wohnung geben.« Drei Monate haben sie dort Zeit, um ihren Status zu klären. Sie können Asyl oder eine Aufenthaltsgenehmigung beantragen, was mit einem Arbeitsvertrag vielleicht Aussicht auf Erfolg hat. Viele gehen auch einfach in die Illegalität und hoffen auf ein erneutes Amnestiegesetz der spanischen Regierung.

Kurz nach unserem Treffen sehe ich William in der Fußgängerzone im Zentrum. Mit schwarzem Netz-T-Shirt, die langen Rastalocken mit einem Tuch hochgebunden, cool mit einem Walkman in der Hand, als sei das jetzt seine Stadt. Aber die Chancen stehen schlecht für ihn und alle anderen, die mehrfach ihr Leben riskierten, um ins europäische Paradies zu kommen, wo alles viel besser ist. Am Freitag wurden von den spanischen Behörden in Melilla die ersten 73 Immigranten nach Marokko zurücktransportiert. Für John und William würde es das abrupte Ende ihres Traums bedeuten, zurück in eine Gegend zu müssen, der sie endgültig entronnen zu sein glaubten.

Die meisten kommen freilich gar nicht so weit. In Handschellen werden sie in Busse verfrachtet, die sie nach einer neunstündigen Fahrt in den Süden Marokkos an den Rand der Sahara bringen, in die Nähe der algerischen Grenze. Dort werden sie einfach ausgesetzt. Auf diese Art wurden am Freitag rund 1 000 Immigranten nach Bouanane und Taouz transportiert, etwa 600 Kilometer südlich von Oujda, der marokkanischen Grenzstadt zu Algerien. Eine Wüstengegend, mehr oder weniger am Ende der Welt, ohne ausreichend Wasser und Verpflegung. Unter den Deportierten waren viele Verletzte, schwangere Frauen und Kinder. Einige wurden Tage später Ärzte ohne Grenzen zufolge nach Nationalitäten selektiert und zum Teil mit Bussen wieder abgeholt, um sie nach Mali oder Senegal auszufliegen. Alle waren an der Grenze zu Ceuta und Melilla verhaftet worden. Sie hatten entweder den Sprung nach Spanien nicht geschafft oder waren noch in den grenznahen Lagern in den Wäldern versteckt und warteten dort auf die nächstbeste Gelegenheit zur Überquerung.

Ein Team des UN-Flüchtlingswerks unter der Leitung von Antonio Guterres plant eine Mission in Marokko, um »die Rechte von Asylsuchenden und Flüchtlingen dort in Zukunft zu garantieren«. Das Problem dabei ist nur, dass die wenigsten der Immigranten, die über Marokko die Fahrt nach Europa machen wollen, politisch Verfolgte sind. In Spanien wird knapp jeder Zehnte als asylberechtigt anerkannt. Den größten Anteil könnte man eher als »Wirtschaftsflüchtlinge« sehen, die ein besseres Leben als das in ihrem Herkunftsland suchen. »Die meisten haben Geld«, sagten zwei Angehörige des »Weißen Kreuzes« unabhängig voneinander in Ceuta und Tanger. Die christliche Hilfsorganisation kümmerte sich in den letzten Jahren um tausende von Immigranten aus Schwarzafrika. »Wer kein Geld hat, kann die große Reise nach Marokko gar nicht antreten. Sie haben Telefone, sind gut gekleidet, gebildet, alles andere als sozial derangiert.«

Ansonsten sieht die Sofortlösung so aus: Die Grenzzäune in Melilla und Ceuta werden nicht nur erhöht und verstärkt, sondern in aller Eile will man einen zusätzlichen, dritten Zaun bauen. Eine Reihe mit Pfählen, zwischen ein und drei Metern Höhe, verbunden mit Drähten, die einen Massenansturm unmöglich machen sollen. Dazu werden Nachtsichtgeräte installiert, eine Radaranlage, die auf 2 000 Meter jede Bewegung registriert und Alarm auslöst. Höhepunkt ist eine Sprinkleranlage, aus der der Pfahlzaun mit Wasser, aber auch mit anderen »Störmitteln« besprüht werden kann. Die einzige Landgrenze zwischen Marokko und Spanien wird zu einem möglichst unüberwindbaren Festungswall ausgebaut.

Für Marokko will die EU finanzielle Mittel bereitstellen, damit das Land auf das Phänomen Immigration »richtig« reagieren kann. Ein Expertenteam der EU soll herausfinden, wie aus dem Fonds von 40 Millionen Euro, der bereits für die marokkanische Grenzsicherung vorgesehen war, speziell für Melilla und Ceuta etwas abzuzwacken ist. Man wolle den Marokkanern zu verstehen geben, dass man ihnen zur Seite stehe, versicherte der europäische Kommissar für Justiz und Sicherheit, Franco Frattini. Aber bekanntlich wäscht eine Hand die andere. Dafür muss sich Marokko verpflichten, alle Immigranten, die von seinem Staatsgebiet nach Europa kommen, wieder zurückzunehmen. Das Abkommen soll noch vor Ende dieses Jahres unterzeichnet werden.

Die Lebensbedingungen der Immigranten in Marokko verbessern sich dadurch sicher nicht. Das Land ist gänzlich ungeeignet dafür, tausende von Flüchtlingen aufzunehmen und zu versorgen. Die Armutsrate lag im vorigen Jahr offiziell bei 14,2 Prozent, dürfte aber, wie auch die Zahl der Arbeitslosen (offiziell: 26 Prozent), in Wirklichkeit noch höher liegen. Die Analphabetenrate beträgt 43 Prozent, und das öffentliche Gesundheitssystem hat große Schwierigkeiten, die eigenen Staatsbürger zu versorgen.

Die Aussichten für Menschen wie John oder William, die aus dem Sudan, dem Senegal, Mali oder Nigeria stammen, sind schlecht. Wie bisher schiebt man sie zwischen Spanien, Marokko und Algerien hin und her. Trotzdem werden weiter Tausende ihr Glück versuchen und dabei ihr Leben riskieren. »Und wenn sie uns wieder zurück in die Wüste schicken«, sagen John und William, »werden wir wiederkommen. Wir lassen uns nicht so einfach abwimmeln. Und Gott wird so etwas nicht zulassen.«