»Ich schließe nichts mehr aus«

Marco Bülow

»Generation Zukunft« lautet der optimistische Titel des Buches des SPD-Bundestagsabgeordneten Marco Bülow. Der 34jährige gehört zu den jüngeren Abgeordneten der Sozialdemokraten und holte bei der Bundestagswahl mit 56,3 Prozent der Erststimmen das Direktmandat im Wahlkreis Dortmund I. Er war einer derjenigen, die Bundeskanzler Gerhard Schröder am 1. Juli nicht das Misstrauen aussprachen. Mit Marco Bülow sprach Regina Stötzel.

Sie gehörten nicht zu den »bestellten ›Misstrauern‹« Gerhard Schröders, wie es in Ihrem Internettagebuch heißt. Was würden Sie jetzt in Ihr Tagebuch schreiben? Fühlen Sie sich bestätigt?

Ich bin mir relativ sicher gewesen, dass wir die Chance gehabt hätten, gemeinsam mit den Grünen noch etwas zu machen, und dass Neuwahlen nichts Gutes bedeuteten. Obwohl wir bei der Bundestagswahl nicht nur mit einem, sondern mindestens mit zwei blauen Augen davongekommen sind, können wir jetzt weniger an sozialdemokratischer Politik durchsetzen als vorher.

Schon seit längerem heißt es, die Bevölkerung sei politikverdrossen. Inzwischen sieht es so aus, als seien es auch die Politiker.

Es ist für Politiker immer schwieriger zu handeln, weil es so viele Zwänge und Kompromisse gibt. Man kann immer weniger bewegen, selbst wenn man Mehrheiten gewinnt. Und ohne Mehrheiten ist es erst recht kompliziert. Deshalb kann ich schon verstehen, wenn einige Frusterlebnisse haben.

Aber ich glaube nicht, dass Franz Münteferings Rücktritt richtig gewesen ist. Viele Leute müssen mit jemandem leben, mit dem sie nicht so gut können, auch in der eigenen Partei. Ich habe sogar immer gedacht, dass er mit Andrea Nahles sehr gut klar kommt, nur mit Kajo Wasserhövel noch besser. Da habe ich mich wohl getäuscht. Heiko Maas hat das Richtige gesagt: Es sind alle diejenigen naiv, die glauben, die SPD habe erst ein Problem, seit Müntefering zurückgetreten ist.

Fehlt es der SPD an Personal?

Beim Personal bin ich gar nicht so skeptisch wie viele andere. Natürlich hat die Brandt-Enkel-Generation es versäumt, Nachwuchs heranzubilden und auch bekannt zu machen. Trotzdem gibt es genug Leute. Unser Problem ist, dass wir in sieben Jahren Regierung und bei einer Basta-Mentalität, die es gegeben hat, verlernt haben, unseren Willen demokratisch an der Basis äußern zu können. Das wurde immer gleich als Putschversuch oder Kanzlersturz ausgelegt. Man hat es versäumt, eine Perspektive für die SPD zu schaffen über Wahlen und Regierungsbündnisse hinaus. Man hat Meinungen, Stimmungen und Diskussionen unterdrückt, die in einer Volkspartei aber zwingend notwendig sind.

Wie würden Sie das Geschehen um die Kampfkandidatur von Andrea Nahles beurteilen? Es wirkte beinahe so, als sei jeder einzelne, der für sie gestimmt hat, nachher überrascht gewesen, dass es insgesamt so viele waren. Ging es um Flügelkämpfe oder eher um persönliche Eitelkeiten?

Es wurde wohl ein Ventil gesucht, um sich Luft zu machen. Wir waren schon einmal knapp so weit, als der Kollege Clement wegen der Agenda 2010 abgewatscht wurde. Ein paar Stimmen weniger auf dem Bochumer Parteitag vor zwei Jahren, und er wäre nicht stellvertretender Parteivorsitzender geworden und, da bin ich mir sicher, auch als Wirtschaftsminister zurückgetreten. Eventuell wäre dann auch Schröder gegangen.

Die Parteispitze hat zum Teil die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Sowohl die parlamentarische Linke, das Netzwerk als auch die Denkfabrik in der Fraktion, also ungefähr 150 Leute von 222, hatten sich für Nahles ausgesprochen. Es ging nicht um Links gegen Rechts oder Jung gegen Alt, und es waren auch nicht nur alte Rechnungen.

Das klingt so, als seien Sie der Meinung, die Sozialpolitik der SPD habe zum Ende von Rot-Grün geführt.

Es ist eindeutig, dass die SPD nicht geschafft hat, was sie eigentlich wollte: zu reformieren und trotzdem die soziale Balance zu halten. Es wird immer so getan, als hätten wir die Bundestagswahl gewonnen, aber wir haben sie nicht gewonnen. Man konnte sehen, dass ein Großteil der Bevölkerung solche Reformen nicht haben will. Die Aufgabe der SPD wäre es nun zu fragen, was haben wir falsch gemacht, und nicht weiterzumachen wie bisher, bloß mit der CDU.

Wie soll denn die SPD in einer großen Koalition Fehler korrigieren? Die Partei wirkt einerseits geschwächt. Andererseits kommen ihre eigenen Pläne, wie etwa die Einführung des Elterngeldes, wieder vor allem denen zu Gute, die mehr Geld haben.

Wir befinden uns in einem Dilemma. Die FDP hat sich verweigert, ein Bündnis mit der Linkspartei wurde von beiden Seiten ausgeschlossen. Ein Scheitern der Koalitionsverhandlungen würde wahrscheinlich Neuwahlen bedeuten. Die würden meines Erachtens kein neues Ergebnis ergeben. Irgendwann würde die Bevölkerung sagen, ihr habt sie ja nicht mehr alle, so viel Geld für Wahlen auszugeben. Also sind wir fast in dem Zwang, diese große Koalition hinzubekommen, obwohl das den meisten nicht gefällt.

Ich glaube nicht, dass man jetzt große Geschenke verteilen kann. Aber man kann deutlich machen, dass die gut Verdienenden auch ihren Anteil zu leisten haben. Nur so hat man eine Chance, den Menschen zu vermitteln, dass es eine gewisse Gerechtigkeit gibt. Diese Karte müsste die SPD spielen, soweit sie es kann.

Ist es das, was Sie mit Visionen meinen? Woher nehmen Sie Ihren Optimismus? Ich kenne nur Leute, die schwarzsehen. Die Renten werden zum dritten Mal in Folge nicht erhöht, und die Sockelarbeitslosigkeit wird bleiben.

Es müsste sich grundlegend etwas ändern. Was passiert denn etwa in der Föderalismuskommission, außer dass Kompetenzen anders verteilt werden? Keiner redet beispielsweise darüber, die Länder zusammenzufassen und so Bürokratie abzubauen und Geld zu sparen. Ein gutes Beispiel für mögliche Veränderungen ist ein Programm, das private Haushalte, aber auch Kommunen beim Einbau von Wärmedämmungen mit zinsgünstigen Krediten fördert. Dadurch wird die Bauwirtschaft angekurbelt und es entstehen Arbeitsplätze. Gleichzeitig wird der CO2-Verbrauch verringert, Energie und langfristig auch wieder Geld gespart. Der Staat darf nicht nach dem Gießkannenprinzip Geld verteilen, er darf sich aber auch nicht kaputtsparen, wie es einige gerne möchten.

Ist denn Matthias Platzeck der richtige für solche Vorhaben? Was hält man von ihm in der »Hauptstadt der Sozialdemokratie«? Er hat mehrfach in den vergangenen Jahren den Eindruck vermittelt, er wolle lieber in Brandenburg bleiben, und er ist erst seit zehn Jahren Parteimitglied.

In meinem Wahlkreis und überhaupt im Ruhrgebiet liebt man eher die Leute, die ein bisschen bescheidener sind und nicht jede Chance nutzen, um Karriere zu machen. Ich denke, Platzecks erste Aufgabe ist es, integrativ zu wirken. Dabei wird sich zeigen, ob er das Zeug hat, nicht nur Parteivorsitzender zu sein, sondern auch an der Basis anzukommen. Er hat gerade im Bereich Ökologie gezeigt, dass er bereit ist, auch mal unkonventionell zu sein und nicht etwa die Ökonomie gegen die Ökologie auszuspielen, wie es etwa 80 Prozent aller Politiker und auch Journalisten in schlechten Zeiten für notwendig halten.

Und wenn das nicht klappt, geht er in einem halben Jahr, wie die anderen?

Ich schließe nichts mehr aus. Von Treueschwüren habe ich mich verabschiedet. Ich hoffe das natürlich nicht, aber ich weiß auch, dass er keinen einfachen Job hat.