»Jetzt erntet der Staat, was er gesät hat«

Mimouna Hadjam

Es sind vor allem männliche Jugendliche, die sich an den Ausschreitungen in Frankreich beteiligen. Frauen tauchen in der Berichterstattung kaum auf. Als langjährige Aktivistin der Organisation Africa à La Courneuve setzt sich Mimouna Hadjam für die Interessen der Frauen in den Pariser Banlieues ein. Die Organisation kämpft gegen Beschneidung von Mädchen, gegen die Zwangsheirat und gegen die Überwachung und die Moralisierung der Banlieues durch islamistische Gruppen. Zu ihren ständigen Aktivitäten zählen Tanz- und Alphabetisierungskurse für Mädchen, Nachhilfeunterricht und Ausbildungen für Langzeitarbeitslose. Mit Mimouna Hadjam sprachen Sophie Feyder und Gilles Bouché.

Die Medien vermitteln den Eindruck, dass nur männliche Jugendliche an den Ausschreitungen beteiligt sind. Was machen die Frauen?

Wir Frauen bitten unsere Kinder, mit der Gewalt aufzuhören. Wir verstehen ihre Wut und stellen uns auf ihre Seite, aber diese Selbstzerstörung muss ein Ende haben. Letzten Endes zerstören sie bloß unsere eigene Infrastruktur. Wir haben nicht erst auf Villepins Ausgangssperre gewartet, sondern die Eltern dazu aufgerufen, die Kinder abends zuhause zu behalten.

Offensichtlich bleiben solche Appelle ungehört.

Es ist leicht, die Eltern zu kritisieren. Vor allem für Politiker, die sich in ihren schönen Wohnungen im 8. oder 16. Arrondissement verkriechen. Ich schlage ihnen vor, bei uns zu wohnen. Dann sehen sie, ob ihre Kinder es aushalten, in regelrechten Hühnerkäfigen zu leben.

Die Autorität der Eltern wird auch durch die hohe Arbeitslosigkeit unterminiert. Diejenigen, die das Glück haben, arbeiten zu können, tun dies unter furchtbaren Bedingungen. Die meisten Frauen unseres Viertels arbeiten in Reinigungsunternehmen. Sie stehen sehr früh auf und arbeiten morgens und abends jeweils von sechs bis neun. Glauben Sie, dass es leicht ist für eine Frau, ihre Autorität durchzusetzen, wenn sie zu den wichtigsten Zeiten, morgens, wenn die Kinder aufstehen, und abends, wenn sie von der Schule nach Hause kommen, nicht für ihre Kinder da sein kann? Man muss über die Auswirkungen der prekären Arbeitsverhältnisse und die Aufsplitterung der Arbeitszeit nachdenken. Von allen Frauen höre ich, dass sie von einer Arbeit träumen, bei der sie 35 Stunden die Woche arbeiten und um fünf Uhr zuhause sind.

Welche Möglichkeiten haben die Frauen, ihrer Wut Ausdruck zu verleihen?

Auch wir Frauen sind wütend, aber wir bewegen uns nicht innerhalb einer Kultur der Gewalt, sondern einer Kultur der Aufopferung. Wir haben die Gewohnheit, viel auf uns zu nehmen. Wir wollen unsere Kinder nicht sehen lassen, dass wir leiden, dass wir kein Geld haben. Die Frauen verbergen ihre Sorgen. Sie geben ihren Kindern viel und wollen nicht vor ihnen offenbaren, dass sie den Kampf längst aufgegeben haben.

Viele von den Kindern, die an der Randale teilgenommen haben, sind sehr jung und haben vorher noch nie irgendwelche Straftaten begangen. Ich glaube, vielen ist bewusst geworden, wie sehr ihre Mütter gedemütigt werden. Nicht nur von den Leuten, für die die Frauen als Putzfrauen arbeiten, sondern auch innerhalb ihrer eigenen Gemeinschaft. Frauen, die von ihren Männern verlassen werden, macht man das Leben zur Hölle. Anders als die Männer müssen die Frauen einer doppelten Diskriminierung die Stirn bieten. Sie leiden nicht nur unter Arbeitslosigkeit und Rassismus. Sie müssen sich auch gegen patriarchale Strukturen zur Wehr setzen.

Ich gebe nicht den Religionen die Schuld am Sexismus. Aber religiöser Extremismus, ganz gleich welcher Religion, begünstigt immer die Unterdrückung der Frauen. Das sieht man nicht nur in Algerien, sondern auch in Polen, wo die Abtreibung verboten ist. Selbst in Frankreich, das sich so laizistisch gibt, ist es nicht gelungen, die Gleichberechtigung der Frauen durchzusetzen.

Sie sprechen von Laizismus. Dabei haben Sie sich selbst jahrelang für den Bau einer Moschee eingesetzt.

Nein, wir unterstützen nicht den Bau von Moscheen. Wir fordern lediglich die Gleichbehandlung aller Religionen. In La Courneuve sind die drei Kirchen nahezu leer. Es läge mir fern, zum Abriss der Kirchen aufzurufen. Aber wenn die Muslime sich zum wöchentlichen Gebet versammeln, drängen sie sich in die einzige Moschee. Solche Missstände geben den Islamisten Argumente in die Hand. Diese geisteskranken Fanatiker instrumentalisieren Muslime, die sich wie Bürger zweiter Klasse behandelt fühlen. Sie sagen ihnen: »Hier gibt es kaum noch Juden, aber eine riesige Synagoge. Es gibt drei christliche Kirchen, aber nur eine Moschee. Da seht ihr, wie Frankreich uns behandelt.« Zurzeit versammeln sich die Muslime in neun Kulturzentren, wo niemand weiß, was genau vor sich geht. Wenn man ihnen einen sichtbaren Ort gibt, an dem sie beten können, dann weiß man wenigstens, wo sie sind. Die Frustration der Muslime fällt letzten Endes auf uns Frauen zurück. Ich selbst bin schon zweimal von Islamisten physisch angegriffen worden.

Gewinnt der militante Islam Anhänger in den Banlieues?

Nach außen hin geben sich die Islamisten seit September 2001 weniger missionarisch. Aber das bedeutet nicht, dass sie weniger gefährlich sind. Die Ideologie hat sich längst in den Köpfen festgesetzt. Man kann das daran erkennen, wie die Jungen sich kleiden. Anstatt Nike und Reebok tragen die Jungen am Freitagabend die Djelaba. Die Medien interessieren sich leider nur für die Kopftücher der Mädchen.

Haben islamistische Organisationen bei den Ausschreitungen mitgemischt?

Das kann ich mir kaum vorstellen. Das war ein Aufstand des Zornes. Vielleicht gab es nach den ersten zwei Tagen den Versuch, den Aufstand zu vereinnahmen. Es ist jetzt Aufgabe der Ermittler, die genauen Hintergründe der Ausschreitungen zu untersuchen.

Über welche Gestaltungsmöglichkeiten verfügen Organisationen wie Africa à La Courneuve?

Die gemeinnützigen Organisationen sind in den vergangenen Jahren leider enorm geschwächt worden. Allein die finanzielle Unterstützung von Africa à La Courneuve wurde um 40 000 Euro gekürzt. Ein Projekt gegen Zwangsheirat wurde gestrichen, unsere Rechtshilfe mussten wir einstellen. Jetzt erntet der Staat, was er gesät hat. So einfach ist das. Auch gehen uns immer mehr Aktivisten verloren. Wer mit dem eigenen Überleben beschäftigt ist, hat keine Lust, sich um seine Nachbarn zu kümmern. Wegen des organisatorischen Vakuums war es unmöglich, die aufgestaute Wut mittels einer politischen Bewegung zu kanalisieren. Anders als im Mai 68 gibt es keine Studentengewerkschaft, keine Jugendorganisationen, keine politischen Parteien, die die Interessen der Unzufriedenen vertreten. Infolgedessen haben die Proteste eine rein destruktive Form angenommen.

Müssen Sie sich angesichts der Ausschreitungen eingestehen, dass Ihre Bemühungen vergeblich waren?

Das kann man so nicht sagen. Vielleicht haben wir nicht genug mit den Jugendlichen gesprochen. Aber wir arbeiten mehrheitlich als Freiwillige und verfügen über sehr geringe finanzielle Mittel. Wir sind nicht dazu berufen, die Gesellschaft umzukrempeln. Die Politiker hingegen haben ein öffentliches Mandat und sind der Bevölkerung Rechenschaft schuldig. Persönlich erlebe ich die Ausschreitungen natürlich als einen Rückschlag, der mich nachts nicht zur Ruhe kommen lässt. Die Politiker schlafen gut, da bin ich mir sicher.