Das Spiel ist aus, nichts geht mehr

Über die Randale der Ausgeschlossenen und die den Ausschluss fördernde Antwort der französischen Politik. von mark terkessidis

Les Minguettes, Vaulx-en-Velin, Mantes-la-Jolie, Sartrouville, Melun, Dammarie-Les-Lys, Toulouse, Lille, Strasbourg – schon vergessen? Das sind Namen von Orten in Frankreich, und die Liste der Orte, in denen es in den vergangenen 25 Jahren Ausschreitungen gegeben hat, teilweise mehrere Nächte lang, ist keineswegs vollständig.

Und noch ein paar Namen: Twafik, Abdelkrim, Salah, Djamel, Malik, Abdelkader. So hießen einige der Jugendlichen, die von der französischen Polizei in den letzten Jahrzehnten getötet wurden. Weil sie zum Beispiel, wie der 16jährige Abdelkader 1997 in Dammarie-Les-Lys nahe Paris, angeblich versucht haben, eine Straßensperre der Polizei zu durchbrechen. Sicher, diesmal hat die Randale fast drei Wochen gedauert. Aber das Drehbuch war bereits geschrieben. Am Anfang stand die »Eléctrocution«, frei übersetzt »die Hinrichtung durch Stromschläge«, von Bouna und Zyed in Clichy, und dann nahm das Geschehen seinen Lauf. Nichts daran ist neu, lediglich das Ausmaß. Und so ist es kein Wunder, dass die Organisation »Mouvement de l’Immigration et des Banlieues«, MIB, ihren Kampfslogan der letzten Jahre einfach noch mal verwendet: »Pas de justice, pas de paix!« (Keine Gerechtigkeit, kein Frieden!)

Nur im ersten Augenblick wirkte die französische Politik hilflos und verzweifelt angesichts des Ausmaßes der Ausschreitungen. Mittlerweile ist die Lage unter Kontrolle, und man macht weiter wie bisher. Den windelweichen Appellen für die Wiederherstellung des Sozialen folgte die Erklärung des Ausnahmezustands. Und schließlich wird das alte Vorgehen auf den neuesten Stand gebracht. Auf der einen Seite gibt es die Erklärungen: Auch ihr seid doch die Kinder der Republik, wir werden uns um euch kümmern, ihr dürft nicht diskriminiert werden. Doch nein, Quoten im ersten Arbeitsmarkt werden wir nicht einführen, aber dafür einen »freiwilligen Zivildienst«.

Auf der anderen Seite werden die Schuldzuweisungen erhoben: Diese Randalebrüder brauchen sich nicht zu wundern, wenn sie keine Jobs kriegen, sie sind »antisozial« und eben deshalb »nicht beschäftigungsfähig«. Die Eltern der Randalierer haben keine Moral und keine Autorität, also streichen wir ihnen das Kindergeld. Und dafür verantwortlich sind die unkontrollierte Familienzusammenführung und Einwanderung. Diese Leute leben doch alle polygam, setzen Unmengen von Kindern in die Welt und kümmern sich dann nicht um sie.

»Gesindel« habe Nicolas Sarkozy, der französische Innenminister, doch ganz zu Recht gesagt, meint die Generalsekretärin der ehrwürdigen Académie Francaise. »Seit Jahren traut sich die Regierung nicht, diese Leute Hooligans zu nennen.« Und am Ende entblödet man sich nicht einmal, die Leute selbst verantwortlich zu machen für die anderen Feuer dieses Jahres: Die Brände in den heruntergekommenen Hotels in der Pariser Innenstadt, in denen Einwandererfamilien auf engsten Raum leben, weil sie nichts anderes finden. Hätten diese afrikanischen Männer nicht so viele Frauen und Kinder, dann könnten sie doch ganz komfortabel in einem Einzelzimmer wohnen, oder etwa nicht?

Die Randale in der Vorstadt ist ein kompliziertes Phänomen. Zwar findet sie statt auf der Grundlage der sozialen und kolonialen Zurichtung der Republik, doch nichts an ihr ist primär politisch. Die Ausschreitungen entstehen aus einer Gemengelage. Da ist die Arbeitslosigkeit: In den Banlieues leben 30jährige, die in ihrem ganzen Leben noch nicht einen Job gehabt haben. Freizeitangebote sind praktisch nicht vorhanden, denn konzipiert waren die Cités als Schlafstädte in den Zeiten der Vollbeschäftigung.

Dann ist da das Bild der Banlieue in der französischen Öffentlichkeit, welches auf dramatische Weise zum Gefühl des Ausschlusses beiträgt: der Gigantismus der Wohnsilos, die soziale Krankheit der gefährlichen (»arabischen«) Jugendlichen, die Wildheit der Einwanderer, die endemische Kriminalität, der Drogenhandel, der Vandalismus. Eine einzige urbane Pathologie also. Die Beschreibung des »Problems« ist bereits Bestandteil der Ausgrenzung: Wer da wohnt, der hat schon verloren. Und tatsächlich reicht schon die Nennung der Adresse, und das Vorstellungsgespräch hat sich erledigt.

Das betrifft auch die Franzosen französischer Herkunft, von denen es mehr gibt, als die Presse in diesen Tagen erwähnt; tatsächlich erreicht der berühmte Migrantenanteil nur in seltenen Fällen 50 Prozent, die Bezeichnung »Ghetto« ist also völliger Unsinn.

Und dann die Polizei mit ihren ständigen Kontrollen. In den neunziger Jahren bürgerte sich für die Polizei der Name Ripou ein: »race inférieure des porteurs d’uniformes«, auf Deutsch etwa: »niedere Rasse von Uniformträgern«. Die Polizei tritt auf wie eine fremde Bande auf dem eigenen Terrain. Und wenn jetzt gesagt wird, dass die Abschaffung der Nachbarschaftspolizei durch Sarkozy ein Grund für die Ausschreitungen gewesen sei: Diese Nachbarschaftspolizei hat es nie gegeben. Das Geld ging weiter an die Sondereinheiten, und die sind ganz einfach brutal. So sind die Jugendlichen in der Vorstadt wie eingekreist, und damit auch verfangen in ihren persönlichen Problemen, die sie Tag für Tag überfordern.

Die Randale ist auch ein Jungsritual, und die Jungs sind keineswegs immer nett. Die Aktion »Weder Huren noch Unterworfene« nahm zwar ihren Ausgang von dem gnadenlos aufgebauschten Problem der »tournantes«, der Mehrfachvergewaltigungen in den Cités, aber dennoch traf das Ganze einen Punkt: In den vergangenen Jahren haben sich Jungs gerne an den Mädchen schadlos gehalten, auf die Mädchen »aufzupassen«, verschaffte ein Gefühl von Macht. Freilich haben diese Mädchen immer noch bessere Chancen, weil sie besser ausgebildet sind und nicht als gefährlich wahrgenommen werden.

Der Soziologe Didier Lapeyronnie hat einmal gesagt, dass die Banlieues keineswegs desintegriert seien, sondern überintegriert. Die Personen dort sind vollständig individualisiert und mit ihrem ganzen Wertekosmos auf ein Zentrum bezogen, in dem sie nicht repräsentiert werden und das sie nicht zur Teilhabe zulässt. Man lebt in den Resten der auf den Hund gekommen Versprechen des sozialdemokratischen Jahrzehnts, in der Zeit nach der Zukunft. Da ist keine politische Bewegung. In der Randale ist das »Subjekt« unsichtbar geworden und die Politik nicht übersetzbar. Sie ist ein Lebenszeichen, aber dieses Lebenszeichen braucht die Reporter und die Soziologen und sogar Sarkozy, um in die Gesellschaft getragen zu werden. Und während sich der soziale Konflikt verflüchtigt, erfindet ganz Frankreich die Banlieue jeden Tag mit.

Und mittlerweile auch ganz Deutschland. Hierzulande wurde nicht einmal kurzfristig der Versuch unternommen, das französische Phänomen zu verstehen. Vom ersten Tag an ging es darum: Könnte das »bei uns« auch passieren? Man freut sich, dass die arrogante Republik nicht funktioniert und die Integration hier angeblich um so vieles besser klappt. Gleichzeitig spürt die Berichterstattung überall »Problemviertel« wie etwa Köln-Chorweiler auf, die jenen in Frankreich ähneln, und markiert damit neue Orte des Ausschlusses.

Und dann macht man weiter wie gehabt, in Frankreich, in Deutschland. Der freie Welthandel wird es sicher richten. Genutzt hat die Randale wie immer nichts. Aber sie war ein Lebenszeichen. Pas de justice, pas de paix!