»Es wird etwas häufiger gebetet«

Martina Sauer

Die rund 2,5 Millionen Bürger türkischer Abstammung in Deutschland sind in den vergangenen fünf Jahren religiöser und konservativer geworden. Das geht aus einer soeben veröffentlichten Untersuchung des Zentrums für Türkeistudien hervor. Dabei wurden im Juni 1 000 türkischstämmige Migranten nach ihren religiösen Einstellungen und Gepflogenheiten befragt. Martina Sauer ist Leiterin der Abteilung für empirische Sozialforschung des Zentrums für Türkeistudien. Mit ihr sprachen Heike Runge und Kerstin Eschrich.

Ihre aktuelle Studie fragt nach den religiösen Haltungen und Organisationsstrukturen der türkischen Community in Deutschland. Wie würden Sie die Ergebnisse zusammenfassen und bewerten?

Sichtbar ist, dass sich mehr türkeistämmige Migranten als früher religiös definieren. Wir haben zum Beispiel gefragt, wie hoch man den Grad der eigenen Religiosität einschätzt, und es haben sich mehr als früher als »eher« oder »sehr religiös« bezeichnet. Wir haben aber auch nach der religiösen Praxis gefragt, und bei der hat sich relativ wenig verändert. Es wird etwas häufiger als früher gebetet.

Doch es besteht kein Hinweis darauf, dass fundamentalistische Haltungen oder Organisationen an Einfluss gewinnen oder mehr Mitglieder haben. Eine kleine problematische Gruppe gibt es natürlich, aber man kann nicht sagen, dass es eine breit angelegte Fundamentalisierung gibt.

In Deutschland und anderen westlichen Ländern gibt es schon lange eine säkulare Tendenz. Aber in der Umfrage spiegeln sich auch bei Menschen, die seit über 20 Jahren hier sind, die Diskussionen über Atheismus nicht wider. Fast 80 Prozent dieser Gruppe bezeichnen sich als sehr bzw. eher religiös.

Die starke Religiosität hat damit zu tun, als Minderheit in einer Mehrheitsgesellschaft zu leben und als religiöse Gruppe unter einem Generalverdacht zu stehen. Viele besinnen sich dadurch stärker auf ihre Kultur und Religion. Die kulturelle Identifizierung ist in der Diaspora oder Minderheitenposition sowieso immer stabiler als in der Mehrheitsgesellschaft. Man kann bei allen Minderheitengruppen feststellen, dass stärker an Traditionen festgehalten wird als im Ursprungsland.

Erklärt das auch die deutlich gestiegene Zahl der Befürworter der Verschleierung? Während im Jahr 2000 nur 27 Prozent der Befragten das Tragen eines Kopftuches in der Öffentlichkeit befürworteten, waren es im Juni 47 Prozent.

Das sind die Einstellungen, die hinter dem Ganzen stehen. Daran merkt man schon, dass da eine konservativere Haltung zu finden ist als früher.

Ich kann mir vorstellen, dass die Diskussion nach dem 11. September um den Islam, um den Krieg in Afghanistan und den von den Medien heraufbeschworenen »Clash of Civilizations« manche Muslime, die vorher nicht ausgesprochen religiös waren, dazu gebracht hat, sich stärker als Muslime zu sehen und zu geben. Durch diese Diskussion ist die Auseinandersetzung der Muslime mit sich selbst und ihrem Glauben in Gang gesetzt worden. Der Islam wird zudem heute mehr als früher als etwas Bedrohliches dargestellt. Das bringt viele dazu, in einer Trotzreaktion auf ihrer muslimischen Identität zu beharren.

Die Studie zeigt auch, dass unter jüngeren Muslimen der dritten Generation eine Polarisierung entsteht. Sie wollen entweder gar nichts mit Religion zu tun haben, oder sie wenden sich radikaleren Organisationen zu.

Es gibt einen leichten Trend dahin, dass junge Migranten, wenn sie sich organisieren – und sie organisieren sich seltener als früher –, eher dazu neigen, zum Beispiel zu Milli Görüs zu gehen. Aber es handelt sich um eine ganz kleine Gruppe der jungen türkeistämmigen Migranten. Von allen Befragten, die in einem Moscheeverein organisiert sind, sind nur acht Prozent bei Milli Görüs, das entspricht zwei Prozent der türkeistämmigen Muslime.

Welche Ergebnisse der Studie deuten Sie positiv in Richtung einer Integration?

Positiv ist, dass man sich den Zusammenschluss aller Vereine und damit eine starke Vertretung in Deutschland wünscht, dass der Religionsunterricht in Schulen gewünscht wird und nicht den Moscheen oder den Moscheevereinen überlassen werden soll. Das sind ganz deutliche Zeichen der Integration. Allerdings Integration verstanden als Einbindung in die Gesellschaft bei Beibehaltung der religiös-kulturellen Eigenarten.

Die Hälfte aller Befragten wünschen sich immerhin eine Ausbildung der Imame in der Türkei, und rund 66 Prozent Türkisch als Unterrichtssprache.

In der Türkei wird das ganze islamische Leben vom Staat organisiert und kontrolliert. Das verhindert in den Augen der Türken den Einfluss fundamentalistischer Strömungen, weil die Türkei ein Staat ist, der die Trennung von Staat und Religion propagiert und keinen fundamentalistischen Islam vertritt, sondern einen sehr weltlichen. Das wünschen sich auch die deutschen Türken. In Deutschland kann jeder Verein Ausbildungen für Imame anbieten, und niemand kann das kontrollieren.

Der starke Wunsch nach Religionsunterricht auf Türkisch ist in der Tat ein Problem. Ich glaube, dass viele Türken den Islamunterricht nicht als reinen Religionsunterricht verstehen, sondern eher als eine Art Kulturunterricht, und der beinhaltet eben auch die türkische Muttersprache. Außerdem fanden religiöse Handlungen bisher immer auf Arabisch oder Türkisch statt. Vielen kommt es komisch vor, das auf Deutsch zu hören.

Stützt die Studie die Einschätzung vieler Soziologen, dass Ausschreitungen wie in Frankreich in Deutschland nicht zu befürchten sind?

Unsere Studie gibt zu den Ausschreitungen in Frankreich keine Hinweise, weil diese nichts mit Religion zu tun haben, sondern mit sozialer Diskriminierung und gesellschaftlicher Ausgrenzung. Ich glaube nicht, dass die Leute, die da Autos anzünden, religiös motiviert sind. Und bei allem, was man in Deutschland an der Integration und der Integrationspolitik kritisieren kann, sind die Verhältnisse doch bei weitem nicht so wie in Frankreich. Die französischen Vororte kann man nicht mit Kreuzberg oder Köln-Mühlheim gleichsetzen.

In der Studie werden Muslime zu muslimischen Themen befragt, nicht aber zu Themen, die in der deutschen Gesellschaft Teil einer religiösen Debatte sind, zum Beispiel die Homo-Ehe, Sex vor der Ehe, Verhütung. Warum tauchen diese Themen in der Studie nicht auf? Das gehört doch auch in den religiösen Diskurs.

Das ist Teil christlicher Auseinandersetzung, nicht aber muslimischer. Das sind keine Themen, die in der muslimischen Gesellschaft diskutiert werden. Da werden ganz andere Themen diskutiert, wie z.B. das Kopftuch, der Religionsunterricht oder die Frage, wer sie im deutschen System politisch repräsentieren soll. Verhütung ist zum Beispiel im Islam kein Thema, weil sie nicht verboten ist. Vorehelicher Geschlechtsverkehr natürlich, aber der ist verboten – Punkt. Darüber wird nicht diskutiert, ob das erlaubt sein sollte.

Für junge Muslime sind das keine Themen?

Davon sind wir noch relativ weit entfernt. Es geht momentan noch um das Kopftuch – vom Ablegen des Kopftuchs zum vorehelichen Geschlechtsverkehr wäre es ein Riesenschritt für die Muslime. So weit ist es noch nicht.