Antideutsche wissen es besser

Der Antideutsche weiß, was Linke vielleicht ahnen, aber nicht wissen wollen.

Antideutsch« ist zunächst ein Etikett, das man Leuten aufgeklebt hat, die immer noch nicht davon lassen können, ihren Mitmenschen mit der ständig wiederholten Frage auf die Nerven zu gehen, wie sie es mit dem kategorischen Imperativ halten, alle Verhältnisse umzustoßen, in denen der Mensch ein geknechtetes, ein ausgebeutetes Wesen ist. Der damit Gemeinte goutiert dieses Etikett, insoweit in ihm treffend zum Ausdruck kommt, dass er sich der herrschenden Geschichtsvergessenheit verweigert und auf der Erfahrung beharrt, dass die auf der Grundlage eines marktwirtschaftlich verfassten Kapitals zwar nicht einzulösenden, aber hier doch wenigstens virulent gehaltenen Versprechungen hinsichtlich einer Gesellschaft ohne Zwang dann unwiederbringlich einkassiert werden, wenn es sich in seinen deutschen Formen organisiert.

Antideutsch denken und handeln heißt demzufolge, die politischen Vermittlungs- und Repräsentationsformen in Gesellschaft und Staat, die auf der Trennung von freien und gleichen Warenbesitzern einerseits und am Allgemeinwohl orientierten Staatsbürgern andererseits beruht, gegen die zu verteidigen, die diese Teilung zugunsten eines autoritären Volksstaates überwinden wollen. Wer in diesem Sinne das Etikett »antideutsch« nicht annimmt, missachtet zumindest die Gefährlichkeit der – selbstredend nicht auf Deutschland beschränkten – Deutschen Ideologie. Deren historischer Kern besteht darin, dass auf ihr Konto nicht nur »normale« kapitalbedingte Ausbeutung und Herrschaft, nicht nur die dem Kapital aus Prinzip immanenten Kriege und der ihm eingeschriebene Antisemitismus gehen, sondern dass sie die Auslöschung der Menschheit in zwei Weltkriegen im Allgemeinen und den eliminatorischen Antisemitismus im Besonderen beinahe total verwirklicht hätte. In der Existenz des Staates Israel manifestiert sich der Einspruch gegen den bewiesenen Vernichtungswahn Deutscher Ideologie. Die Haltung zu diesem Staat markiert die Grenzlinie zwischen deutsch und antideutsch.

So sehr sich also antideutsche Ideologiekritik historisch begründet, verweigert sie sich dem typisch linken Ansinnen, sich der Geschichte in der Absicht zuzuwenden, dort Anschluss an eine ihr gemäße politische Bewegung zu finden. Der Antideutsche maßt sich an, auch geschichtliche Prozesse dem Primat der Vernunft zu unterwerfen. In dieser Hinsicht weist er das Etikett »antideutsch« zurück. Er weiß um die Unvernunft partei- und bewegungspolitischer, das freie Denken verhindernder Programmatik und Theorie. Er verurteilt deshalb jeden Versuch, die Bezeichnung »antideutsch« zum Aufbau einer positiven Gruppenidentität zu missbrauchen. Was gegenwärtig unter dem Label »antideutsch« firmiert, besteht aus nichts weiter als einer Gruppe von Einzelpersonen, die allerdings, und das kann und braucht gar nicht verschwiegen zu werden, eine Reihe von Essentials teilen.

Der heute so genannte Antideutsche weiß, dass Wert-, Staats- und Ideologiekritik ein- und dasselbe sind. Er weiß, dass linke Theoriebildung, spiegelbildlich zur linken Praxis, mit Ausnahme der Kritischen Theorie, seit den Auseinandersetzungen zwischen Karl Marx und Michail Bakunin sich auf dem absteigenden Ast befindet. Somit sollte es nicht verwundern, dass in den Essentials antideutscher Kritik über die Kritische Theorie hinaus auch Einflüsse von Denkern wie Sigmund Freud und Hannah Arendt eingegangen sind, die kaum dieser Linken zuzurechnen waren. Selbst erzreaktionäre Apologeten des deutschen Weges, man denke an Carl Schmitt, tragen, wo es um die Reflexion der wirklichen Prozesse kapitalistischer Reproduktion geht, mehr zu deren Erkenntnis bei als jede explizit linke Theorie seit Marx.

Der Antideutsche ist per definitionem im kulturellen und akademischen Betrieb ebenso wenig anschlussfähig wie im politischen – worauf er sich keinesfalls etwas einbildet, sondern was er zutiefst bedauert. Aber er besteht darauf, dass Kritik nur dann etwas gilt, wenn sie nichts weiterem verpflichtet ist als der Vernunft. Er nimmt in den zur Debatte stehenden Angelegenheiten deshalb unter Einsatz seiner ganzen Person Partei, verzichtet also auf den Habitus des angeblich über den Dingen stehenden, Vor- und Nachteile säuberlich sortierenden Experten, in der Hoffnung, dass die Wirklichkeit ihm und seinen Befürchtungen doch noch Unrecht gibt. Er lässt es den Theoretikern nicht durchgehen, wenn sie die Unterscheidung zwischen Opfern und Tätern verdrehen oder auch nur verwischen. Oder wenn sie die Verantwortlichkeit des Subjekts für die herrschenden Zustände in einer angeblich historischen, ökonomischen, strukturalen oder gar anthropologischen Gesetzmäßigkeit verschwinden lassen.

Er ist von Natur aus negativ, was in einer auf positives Denken geeichten Gesellschaft nicht erwünscht ist. Die Vorwürfe, arrogant aufzutreten und einen absoluten Wahrheitsanspruch zu vertreten, sind ihm so gewiss, wie ansonsten nur gewiss ist, dass das Geschwafel akademisch geführter Diskurse für die Emanzipation des Menschen aus unwürdigen Verhältnissen folgenlos ist.

Der Antideutsche ist sich nicht zu schade, auch einmal waschechten Konservativen recht zu geben, wenn diese sich, aus welchen Gründen auch immer, gezwungen sehen, das Richtige zu tun. Der Antideutsche ist sich seiner selbst als Kommunist so sicher, dass es ihm egal ist, ob ihm Linke ein Paktieren mit dem Klassenfeind vorwerfen, wenn er den Krieg der USA gegen den Irak im Besonderen und gegen den islamfaschistischen Terror im Allgemeinen aus triftigen Gründen begrüßt. Er tut dies auch aus eigenem Interesse, denn er weiß, wie übrigens jeder Linke, der dies jedoch nie zugibt, dass sein Überleben als Kritiker und Kommunist davon abhängt, dass die Deutsche Ideologie nicht über die liberale obsiegt.

In all dem macht er den Staatsfetischismus nicht mit, der die verschiedensten Volksfrontstrategien und Bündnispolitiken dieser Linken bisher umgetrieben hat: nämlich den Kampf für Kommunismus aufzuschieben, um sich »zunächst« der Verwirklichung der bürgerlichen Freiheits- und Gleichheitsrechte zu verschreiben (als ob die nicht längst in den kapitalistischen Kernstaaten in der einzigen Form durchgesetzt sind, in der sie sich auf der Grundlage des Kapitals überhaupt verwirklichen lassen). Vom Recht, und damit vom Staat, zu verlangen, eine gerechte Gesellschaft herzustellen, ist und bleibt grober Unfug.

Die zurzeit in Frankreich zu beobachtenden Folgen der Antidiskriminierungsgesetze zeigen im Übrigen zum wer weiß wievielten Mal, dass dieser Staatsfetischismus bloß dazu führt, dass die Subjekte sich nicht als freie und gleiche, in Konkurrenz zueinander stehende Staatsbürger verstehen, sondern als Mitglieder einer schützenswerten kulturellen Gemeinschaft. Unter den Bedingungen allgemein durchgesetzten bürgerlichen Rechts gehört die Bekämpfung der in der kapitalistischen Gesellschaft notwendig fortwesenden Diskriminierung nicht ins Gesetzbuch geschrieben. Sie hat vielmehr dort zu erfolgen, wo diese unter den Bedingungen formal gleicher und freier Rechtsverhältnisse stattfindet: in den politischen und privaten gesellschaftlichen Beziehungen. Und sie hat sich gegen die völkischen, religiösen und rassistischen Selbstzuschreibungen der Subjekte zu richten.

Die Verteidigung der von der Aufklärung erzwungenen Trennung in einen die Bedingungen funktionierender Kapitalreproduktion rechtlich absichernden Staat, der die für jeden Staatsbürger, jenseits aller tatsächlichen Unterschiede, gleich geltenden Rechte und Pflichten organisiert, und einer Gesellschaft, in der diese Unterschiede ausgetragen werden können und sollen, ist deshalb ein Essential antideutscher Kritik, weil diese institutionelle Trennung eine der wenigen Sicherungen gegen die deutsche Aufhebung des Kapitals auf dessen eigener Grundlage darstellt. Sie darf bis zu dem Zeitpunkt nicht durchbrennen, bis der Kommunismus die Vorgeschichte der Menschheit abgeschlossen haben wird.

Der Antideutsche weiß somit nicht so recht, ob der Kommunismus heute noch »links« daherkommen kann oder sollte. Dies ist eine der vielen offenen Fragen, über die weiterhin zu streiten sein wird. Keinen Streit aber kann es darum geben, dass es unabdingbar zur Vernunft gehört, der existierenden Unvernunft mit einem gehörigen Schuss Pragmatismus zu begegnen. Dieser begründet sich historisch, orientiert sich an den gegebenen Machtverhältnissen und ist anders geartet als jene Pragmatik, über die sich linke Politik geradezu definiert: nämlich aus ideologischer Borniertheit immer wieder dasselbe vollkommen Verkehrte zu tun und dies als Fortschritt auf dem Weg zum Sozialismus zu verkaufen.

Der antideutsche Kritiker lehnt es aus all diesen Gründen ab, konstruktiv zu sein; er will entschieden das Gegenteil, er zielt auf die Destruktion der Fetische von Staat, Geld, Nation und Kultur.

Da jede Fetischkritik aggressive Abwehr erzeugt, muss der Antideutsche, ob er will oder nicht, provozieren. Nicht also provoziert er um der Provokation willen, sondern weil er dem Kritisierten den Spiegel vorhält, der dessen Denken und Handeln als fremdbestimmt ausweist. Er macht dabei vor keiner Person halt. Schließlich unterliegen der Arbeiter wie der Arbeitslose denselben Verblendungen wie der Kapitalist.

Der Antideutsche hat also dem altlinken Wahn abgeschworen, als sei es die vom Kapital mit Notwendigkeit herbeigeführte Pauperisierung der Massen, die sie für vernunftgemäßes Handeln prädestiniere. Das Gegenteil ist der Fall: Diese Massen laufen zur Deutschen Ideologie über, wenn Politik und Staat ihnen diesen Weg nicht versperren. So wie die rechten Populisten ihnen auf diesem Weg vorweg laufen, so laufen die linken Apologeten dieser Massen, von den No Globals bis hin zu den alten und neuen Sozialdemokraten, ihnen hinterher.

Der Kommunismus hingegen baut auf nichts anderem auf als der bewussten Tat der Einzelnen, die es verabscheuen, ein gutes Leben nur führen zu können, wenn die meisten Menschen unter dem Zwang zur Arbeit ein menschenunwürdiges Dasein fristen müssen. Oder er wird gar nie sein.