Wo ist meine Einheit?

Der Philosoph Paolo Virno begibt sich in seiner »Grammatik der Multitude« in die Niederungen der Produktion. von cord riechelmann

Als Giovanni Di Lorenzo kürzlich in der Talksshow »Drei nach Neun« die MTV-Moderatorin Sarah Kuttner zu Gast hatte, gab es etwas zu lernen. Di Lorenzo hatte mit der scheinbar unverfänglichen Frage nach dem Wesen eines ihrer Interviewpartner für Informierte unverkennbar Kuttners neuen Freund vorgestellt. Danach machte er einen kleinen Schwenk und endete mit der Bemerkung, es sei schade, dass er sie jetzt nicht danach fragen könne, wie es sei, wenn man frisch verliebt ist, weil man ja vereinbart habe, nicht über Privates zu reden. Aber genau das hatte di Lorenzo damit getan. Was in dem Dialog zum Ausdruck kam, war nicht Di Lorenzos journalistische Tücke, sondern ein allgemeines Phänomen: Die Auflösung des Begriffspaars »öffentlich/privat«, und zwar in einem öffentlich-rechtlichen Fersehsender.

Das ist kein Zeichen für den Verfall der Sitten, sondern die Folge eines Transformationsprozesses in dem Bereich, den man Öffentlichkeit nennt und dem sich auch ein Vorzeigeliberaler wie Di Lorenzo nicht entziehen kann. Die bisher für selbstverständlich gehaltene Trennungslinie zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen löst sich auf und das schafft Irritationen.

Was das bedeutet und welche weitreichenden Folgen das für das Verhalten der Subjekte hat, versucht der italienische Philosoph Paolo Virno in seinem gerade auf Deutsch erschienenen Buch »Grammatik der Multitude« zu skizzieren. Der schmale Band basiert auf der schriftlichen Fassung eines an der Universität von Kalabrien in Cosenza gehaltenen Vortrags. Es ist dieser Form geschuldet, dass viele Gedankengänge lediglich angerissen werden.

Im liberalen Denken wird die von den »Vielen« ausgehende Unruhe im Rekurs auf das Begriffspaar von Öffentlichem und Privatem besänftigt, heißt es bei Virno. Das uneinheitliche, abweichende Verhalten vieler wird in dem Emblem »Privat« gedemütigt. Für die Multitude kann es also nur darum gehen die Unterscheidung »öffentlich/privat« zu verwerfen. Und inwieweit den Vielen dabei die Verhältnisse zuspielen, zeigt sich daran, dass ein bisher der Zugehörigkeit zu den Vielen unverdächtiger wie Di Lorenzo deren Verhaltensformen annimmt.

Die »Grammatik der Multitude« gibt sich schon im Untertitel nicht nur als philosophische Begriffsanalyse aus. Die »Untersuchungen zu gegenwärtigen Lebensformen« sind auch der Versuch, die »Seinsweise« in den gegenwärtigen gesellschaft­li­chen ­Verhältnissen zu bestimmen. Damit greift Virno nicht nur Motive der Existenzphilosophie auf, er nimmt auch unausgesprochen Bezug auf die Form der Verhaltensanalyse aus Baruch de Spinozas »Ethik«, die nach einer Formulierung von Gilles Deleuze eine »Ethologie«, eine Verhaltenslehre ist.

Vordergründig geht es Virno um die Frage, welche Formen der Vergesellschaftung und welche Arten von Subjektivität im Begriff der Multitude aufgehoben sein können. Der von Antonio Negri und Michael Hardt zuerst in »Empire« einem größeren Publikum bekannt gemachte Begriff der Multitude ist spätestens mit dem Folgeband mit dem Titel »Multitude« auch zum Spottbegriff für nebulöses Schwadronieren geworden. Eine Bestimmung, was und vor allem wer die Multitude sei, hätten sie zu liefern vergessen, lautete die Kritik.

Dabei ging unter, dass zumindest für Negri der Begriff eine Geschichte hat. »Die ›Multitudo‹ ist zum produktiven Wesen geworden. Das bürgerliche Recht ist das Vermögen der ›Multitudo‹«, heißt es bereits in Negris 1982 auf Deutsch erschienener und im Gefängnis geschriebener Spinoza-Studie »Die wilde Anomalie«. Und mit Spinozas Begriff der »Multitudo«, der in den deutschen Ausgaben mit »Masse« oder »Menge« übersetzt wird, beginnt auch Virno, womit er eine Spur legt, die im Text allerdings nicht weiter verfolgt wird. Für Virno ist das Konzept der Multitude die Fortschreibung der spinozistischen Masse unter heutigen Bedingungen und der Gegenbegriff zum »Volk«.

Mit dem »Volk« führt Virno auch Spi­nozas zeitgenössischen Gegner Thomas Hobbes ein. Für diesen wiederum ist die Menge der Gegensatz des Volkes und damit das Gift des Staates. »Denn das Volk ist eine Einheit mit einem Willen und ist einer Handlung fähig.« Die Menge kann bzw. will so etwas nicht und ist damit der Gegner des Volkes und des Staates. Für Virno ist damit eine Bestimmung der Multitude gegeben: Sie entzieht sich den Homogenisierungen, die in der Epoche der Nationalstaaten und der von ihnen geschützten Nationalökonomien mit den Industrien, der Fließbandproduktion und den Arbeitern auch die entsprechenden »Seinsweisen« hervorbrachten.

Der Witz des Gedankengangs von Virno ist, dass er die Multitude eben nicht vorrangig als den gegenwärtigen Produktionverhältnissen antagonistisch vorstellt, sondern im Gegenteil als die einzige Seinsweise, die den Produktionsverhältnissen und der Krise der Arbeitsgesellschaft angemessen zuliefern kann. Virno schreibt: »Nichts scheint mehr die Arbeit vom Rest menschlicher Tätigkeiten zu unterscheiden. Im Hinblick auf das, ›was‹ gemacht wird und ›wie‹ es gemacht wird, gibt es zwischen Arbeit und so genannter Arbeitslosigkeit keinerlei Unterschied; man könnte auch sagen: Arbeitslosigkeit ist nicht bezahlte Arbeit, während umgekehrt Arbeit bezahlte Arbeitslosigkeit ist. Diese paradoxen, einander widersprechenden und zugleich zusammengehörigen Formulierungen zeigen, wie sehr die gesellschaftliche Zeit aus den Fugen ist.«

Die Segregation der Gesellschaft, die Vernichtung der Bedingungen eindeutiger Klassenzugehörigkeit durch die Produktionverhältnisse, die ihren frühen prägnanten Ausdruck in Margaret Thatchers Statement fanden, sie kenne keine Gesellschaft, nur Individuen, machen es schwieriger, die Formen der Einheit der Vielen zu denken, als in den Zeiten der fordistischen Fließbandproduktion.

Die Multitude, der Virno eine Verhaltensphysiognomie zu geben versucht, ist alles andere als eine postmodern bunte Versammlung im Karneval der Kulturen. Auch sie braucht eine Form der Einheit. Doch ist diese Einheit nicht länger der Staat, sondern »die Sprache, der Intellekt, es sind die gemeinsamen Fähigkeiten der menschlichen Gattung«. Und diese gemeinsamen Fähigkeiten werden in der gegenwärtigen Produktion so selbstverständlich genutzt, wie sie von den Vielen bereitgestellt werden.

Was es möglich macht, dass sich diese Fähigkeiten unabhängig vom Standort Staat durch das Kapital überall abrufen lassen, gehört zu den zentralen Fragen Virnos. Wer heute arbeitet, produziert in seinen Worten vir­tuose Szenarien seiner Kommunikationsfähigkeit, seiner Kreativität ohne Güter, die man bewerten oder messen könnte. Oder auch ohne dass der produzierende Virtuose genau sagen könnte, wo er nun das gelernt hat, was er in seinem Job braucht. Dass in solchen Verhältnissen Opportunismus und Zynismus zu verbindenden Strategien werden, ist zwangsläufig. Virnos »Grammatik« erkennt in opportunistischen und zynischen Verhaltensmustern aber beides, die Folge der Anpassung an die bestehenden Hierachien wie auch einen Affekt gegen die Verhältnisse. Es geht ihm darum, diese Dialektik zu erkennen und das revoltierende Moment in diesem Affekt zu stärken. Die »Grammatik« liefert eine anschauliche Analyse der Verhaltensänderungen in der Gegenwart, mit denen weiter zu denken sich lohnt.