Ein Land erwacht

Deutschland 2006 von stefan wirner

Geht es Ihnen auch so? Sie schlagen am Morgen die Augen auf, blicken aus dem Fenster auf den winterlichen Hinterhof und haben keine Lust aufzustehen? Lieber ziehen Sie sich die Decke noch einmal über den Kopf und verkriechen sich in die Kissen, nach dem Motto: Was du heute kannst besorgen, das verschiebe ruhig auf morgen? Dann sind Sie auch ein Angehöriger eines aussterbenden Menschenschlags in Deutschland.

Denn der bislang immer nur beschworene »Ruck« scheint nun tatsächlich durch das Land zu gehen. »Wir alle wissen, Deutschland steht vor einem Berg von Aufgaben«, sagte Bundespräsident Horst Köhler in seiner Weihnachtsansprache. »Jahrzehnte lang war Deutschland in Europa an der Spitze. Da wollen wir wieder hin.«

Die Bild-Zeitung war begeistert von der Ansprache und präzisierte sie sogleich: »Deutschland muss wieder Spitze in der Welt werden.« Denn warum soll der Aufstieg nur an die Spitze Europas führen, wenn sich die Deutschen alle gemeinsam auf die Socken machen? Das nächste Jahr biete »die große Chance, nach den Jahren des Niedergangs das Blatt zu wenden«. Keineswegs soll 2006 das internationale Jahr der Wüsten und der Wüstenbildung werden, wie die Vereinten Natio­nen vorschlagen. Bild hat sich eine andere Meinung gebildet: »2006 muss das Jahr der Deutschen werden.« Wer sagt’s der Uno?

Wer trotz dieser Verheißungen weiter hoffte, dass die Mühen und Plagen des Wiederaufbaus eines offenbar völlig darnieder liegenden Landes an ihm vorüberziehen mögen, wurde noch vor Jahresende von einem Brief der Kanzlerin, den sie in Zeitungen und Zeitschriften abdrucken ließ, aufgeschreckt. »Liebe Bürgerinnen und Bürger«, hieß es darin, »in den vergangenen Wochen und Monaten bin ich oft gefragt worden, warum ich dieses Land regieren möchte. Bei all den Problemen, vor denen wir zurzeit stehen. Ich entgegne dann immer: weil ich an dieses Land und seine Menschen glaube! Weil Deutschland voller Chancen steckt.«

»Überraschen wir uns damit, was möglich ist und was wir können«, schlug sie vor, und Köhler nahm sie umgehend beim Wort und überraschte »uns« mit einem Vorschlag, der zeigte, dass Deutschland sich nicht nur daran macht, seine Chancen zu nutzen, sondern en passant auch noch die Unterschiede zwischen Arbeitern und Kapitalisten vergessen machen will. Er schlug im stern vor, »die Ertragsbeteiligung der Arbeitnehmer oder ihre Beteiligung am Produktivvermögen wieder auf den Tisch zu bringen«. Denn Lohnabhängige und Unternehmer müssten begreifen, dass sie »angesichts des weltweiten Wettbewerbs im selben Boot sitzen«.

Ertragsbeteiligung, das hört sich gut an, mag sich manch einer gedacht haben im Land des Exportweltmeisters. Fragt sich nur, woran der Lohnabhängige beteiligt wird, wenn das Unternehmen der Bilanz nach keinen Gewinn macht, um keine Steuern zahlen zu müssen. Gibt es zukünftig gar keine Tarifverträge und Lohnerhöhungen mehr, sondern nur noch Beteiligungen am Risiko des Unternehmens? Schuften alle noch mehr, weil sie glauben, sie kämen so voran, und halten damit doch nur den Kopf über Wasser?

Das sind naturgemäß die Fragen der Zauderer und Blockierer. Die aufgewachten Deutschen, überzeugte Unternehmer in nationaler Sache, sitzen derweil längst »im selben Boot« und schiffen den »Berg von Aufgaben« hinauf. Die einen rudern, und die anderen lachen sich insgeheim kaputt über den Unsinn, den der Steuermann und die Kapitänin den Rudernden weismachen. Nur ein paar wenige drehen sich lieber um und dösen noch ein wenig, solange das noch geht.