»Für Säkulare ein Desaster«

Ein Gespräch mit dem palästinensischen Schriftsteller samir el-youssef

Samir el-Youssef wurde 1965 in Rashidia, einem palästinensischen Flüchtlingslager im Libanon, geboren. Seit 1990 lebt der Schriftsteller und Literaturkritiker in London. Im vergangenen Jahr erhielt er den Tucholsky-Preis des Schwedischen Pen-Clubs. Demnächst erscheint im Luchterhand-Verlag die deutsche Übersetzung seines gemeinsam mit dem israelischen Schriftsteller Etgar Keret verfassten Buches »Alles Gaza«.

Überwiegt bei Ihnen die Freude darüber, dass demokratische Wahlen in einem arabischen Land überhaupt haben stattfinden können, oder die Enttäuschung über das Wahlergebnis?

Man kann diese Wahlen nicht von den Bedingungen trennen, unter denen sie stattgefunden haben. Wahlen, die in Ländern stattfinden, in denen es keine Stabilität und keinen Frieden gibt, sind immer eine fragwürdige Angelegenheit. In einer so angespannten Lage besteht prinzipiell die Gefahr, dass Extremisten gewinnen. Genau das ist in den palästinensischen Gebieten passiert.

Hat es Sie überrascht, dass der Sieg der Hamas so eindeutig ausgefallen ist?

Es war klar, dass die Leute die Autonomiebehörde gründlich satt haben. Gewundert hat mich allerdings, dass die Fatah sogar von ihrer eigenen Basis verraten wurde. Denn die Fatah ist nicht einfach nur eine politische Partei, die bei Wahlen kandidiert, sie ist eine große Bewegung, mit der sich sehr viele identifizieren, selbst wenn sie keine Parteimitglieder sind. Ganze Familien gehören zur Basis der Fatah. Normalerweise hätte das ausreichen müssen, um die Wahlen zu gewinnen.

Was genau werfen die Leute der Fatah vor?

Die Liste ist lang: das Missmanagement, die Korruption und die Schwäche der von der Fatah geführten Autonomiebehörde, die Unfähigkeit der Fatah, die Grundversorgung der Bevölkerung sicherzustellen – aus all diesen Gründen haben die Leute gesagt: Jetzt soll es jemand anderes machen!

Was bedeutet das Votum für die Hamas in Bezug auf den Friedensprozess? Wünscht die Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung keine Einigung mit Israel? Oder hat sie den Glauben daran verloren, dass Frieden möglich ist?

Die Palästinenser haben sich ähnlich verhalten wie die Israelis vor fünf Jahren, als sie Ariel Sharon wählten - nicht weil sie keinen Frieden wollten, sondern weil sie zu diesem Zeitpunkt keine Perspektive für einen Frieden gesehen haben. Daher haben sie jemanden gewählt, der das Land in einer schwierigen Lage zusammenhalten konnte. Auch die Palästinenser haben jetzt gesagt: Hören wir auf, uns etwas vorzumachen, es gibt keinen Frieden. Also wählen wir Leute, die unsere Kräfte zusammenführen und die hoffentlich etwas für uns tun können.

Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen dem israelischen Rückzug aus Gaza und dem Wahlergebnis?

Die Hamas und der Islamische Jihad versuchen, die libanesische Hizbollah zu kopieren. Nachdem sich die Israelis aus dem Südlibanon zurückgezogen hatten, veranstaltete die Hizbollah eine große Parade, um zu demonstrieren: »Wir haben das Land befreit.« Das gleiche behaupten die Hamas und der Islamische Jihad. Ihre Siegesparade fiel allerdings sehr ärmlich aus, aber sicherlich haben sich die Palästinenser über den Rückzug gefreut. Inzwischen beginnen sie jedoch zu begreifen, dass sie bisher nicht viel davon hatten. Die Armut ist größer geworden. Unter der Besatzung war die palästinensische Ökonomie eng mit der israelischen verflochten. Jetzt muss sich die Ökonomie in Gaza selbst tragen, was praktisch unmöglich ist. Zudem existiert in Gaza ein Machtvakuum, weshalb bewaffnete Milizen versuchen, einzelne Gebiete zu kontrollieren.

Aber einen unmittelbaren Zusammenhang mit dem Wahlergebnis sehe ich nicht.

Besteht die Chance, dass sich die Hamas mäßigen wird, wenn sie die Regierungsverantwortung übernimmt?

Die Hamas wird sich nicht mäßigen. Allerdings wird sie, wenn sie auch nur einen Funken Intelligenz besitzt, den Israelis sagen: »Seht her, ihr seid unsere Feinde, wir erkennen euch nicht an und eines Tages werden wir euch vernichten, keine Sorge. Aber für den jetzigen Moment schließen wir einen Waffenstillstand und werden euch nicht angreifen.« Wie für jede andere Organisation in dieser Lage wird die Macht, die die Hamas jetzt besitzt, eine gewisse Versuchung darstellen. Jetzt ist sie an der Regierung und verfügt über neue Mittel und Möglichkeiten. Ähnlich wie die Hiz­bol­lah wird die Hamas vorerst nicht die Konfrontation mit Israel suchen und ihr Ziel, diesen Staat zu vernichten, auf unbestimmte Zeit verschieben. Die spannende Frage ist auch, wie die Fatah darauf reagiert, zum ersten Mal in der palästinensischen Geschichte nicht mehr die bestimmende politische Kraft zu sein.

Halten Sie einen Bürgerkrieg für möglich?

Nicht unbedingt einen Bürgerkrieg. Zum einen ist die palästinensische Gesellschaft dafür zu schwach, zum anderen wird es keinen Bürgerkrieg geben, solange der Kriegszustand mit Israel fortdauert. Was ich für möglich halte, ist eine permanente Konfrontation, eine permanente Zerrüttung. In diesem Zusammenhang wird es dann auch bedeutsam sein, wie sich die Israelis verhalten werden.

Manche Beobachter sind dennoch optimistisch, dass die Hamas langfristig einen Prozess durchmachen wird wie einst die Fatah.

Im Nahen Osten kann man sich nie über irgend­etwas sicher sind; jederzeit kann alles passieren. Man muss auch bedenken, dass die Hamas vorrangig eine palästinensisch-nationalistische Organisation ist. Sie will nicht den Jihad um die ganze Welt tragen, sondern einen palästinensischen Staat gründen. Daher könnte sie in begrenztem Umfang die Funktion der Fatah übernehmen, ohne aber ihre eigenen ideologischen Ziele aufzugeben. Dennoch hoffe ich, dass Israelis, Europäer und Amerikaner Kontakt zu dieser Regierung halten, um praktische Probleme zu lösen.

Was bedeutet die Machtübernahme der Hamas für säkulare und für christliche Palästinenser?

Ein Desaster. Wo immer sie die Gelegenheit dazu hatte, hat die Hamas gezeigt, dass sie sich ins Privatleben der Menschen einmischt, Frauen dazu zwingt, sich zu verschleiern, Musik verbietet usw. Ich habe große Sorgen um die säkularen Elemente des politischen und sozialen Lebens.

Was sind die größten Hindernisse für eine palästinensische Zivilgesellschaft? Die Ökonomie? Die fehlende Aufklärung? Die Besatzung?

Die palästinensische Gesellschaft benötigt Frieden nach außen und Reformen nach innen. Im Moment haben wir eine Situation, in der das eine Problem die Lösung des anderen verhindert.

Sie setzen sich für palästinensisch-israelische Kooperationsprojekte auf kultureller Ebene ein. Ein Versuch, den Dialog nicht ganz abreißen zu lassen?

Die Idee entstand im Jahr 2002 nach dem verheerenden Selbstmordattentat in Netanya und dem israelischen Einmarsch in Jenin. In dieser Situation traf ich Etgar Keret in der Schweiz auf einer Konferenz, an der Israelis und Palästinenser teilnahmen. Ich sagte zu ihm: »Wir müssen etwas tun!« So kamen wir auf die Idee, gemeinsam ein Buch zu veröffentlichen. Das war nicht nur eine politische Stellungnahme, mit der wir zeigen wollten, dass Israelis und Palästinenser auch anders miteinander umgehen können, als sich gegenseitig umzubringen. Wir fanden die Idee auch deshalb so reizvoll, weil es viele Gemeinsamkeiten zwischen seiner und meiner Arbeit gibt und sich unsere Figuren und unsere Erzählweisen sehr ähneln. Viele der Charaktere in Etgar Kerets Geschichten könnten ebenso gut in meiner Prosa vorkommen und umgekehrt.

interview: deniz yücel, heike runge