»Der Markt ist rational«

Was denkt das Kapital? Ein Gespräch mit ottheinrich von weitershausen, dem Chefvolkswirt der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, über Löhne, Wachstum und die internationale Konkurrenz

Können Sie verstehen, dass lohnabhängig Beschäftigte in Deutschland, die seit Jahren sinkende Reallöhne hinnehmen müssen, kein Verständnis für das Gejammer der Unternehmen haben?

Psychologisch habe ich ein großes Verständnis dafür. Aber die Märkte bewerten die Dinge sehr nüchtern. Der Markt ist eine rationale Veranstaltung. Nirgendwo in der Welt wird die Höhe der Einkommen garantiert.

In den alten EU-Staaten sind die Reallöhne zwischen 1995 und 2004 im Schnitt um 9,9 Prozent gestiegen, während sie in Deutschland um 0,9 Prozent gesunken sind. Andererseits ist die Arbeitslosigkeit hierzulande deutlich höher. An zu hohen Löhnen kann es also nicht liegen, oder?

Zwischen Löhnen und Beschäftigung gibt es sehr wohl einen Zusammenhang. In Deutschland haben wir im Schatten des Eisernen Vorhangs ein sehr hohes Lohnniveau aufbauen können. Seit seinem Wegfall haben wir in unserer Nachbarschaft Länder, in denen der Wohlstand noch wachsen muss und ein viel geringeres Lohnniveau besteht. Dadurch hat die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt zugenommen. Das begrenzt die Möglichkeiten eines Lohnanstiegs.

Wie kann Deutschland Exportweltmeister sein, wenn die Löhne zu hoch sind?

Weil sich die deutsche Wirtschaft immer mehr auf die Produkte konzentriert, die sie wettbewerbsfähig herstellen kann. Aber für jede Einheit, die wir exportieren, importieren wir Vorleistungen, und diese sind in den vergangenen zehn Jahren von 30 auf 40 Prozent gestiegen. Dass die Unternehmen sich auf bestimmte Bereiche konzen­trieren, stärkt zwar ihre Wettbewerbsfähigkeit, führt jedoch zugleich dazu, dass viele Arbeitsplätze, die wir früher hatten, nicht mehr wettbewerbsfähig sind und wegfallen.

Wo ist denn die Grenze in diesem Wettbewerb? Muss ich mich als Lohnabhängiger darauf einstellen, dass ich irgendwann in Deutschland auch nicht mehr verdienen werde als in Rumänien?

Die Grenze ist dort, wo die Produktivität des einzelnen Arbeitnehmers nicht mehr ausreicht. In Deutschland können wir Arbeitsplätze mit Maschinen ausstatten und auf diese Weise die Produktivität steigern. Das wiederum erhöht die Anforderungen an die Qualifikation der Arbeitnehmer und führt dazu, dass wir die geringer Qualifizierten nur noch schwer unterbringen können. Jedenfalls greifen diese Dinge ineinander, so dass mit einem geringeren Einkommen eine höhere Sicherheit der Arbeits­plätze verbunden ist. Deswegen sollte jeder aus eigenem Interesse sich eine gute Grundausbildung zulegen und ständig weiterbilden.

Führt die Angst vor der Arbeitslosigkeit nicht dazu, dass selbst Unternehmen, die es nicht nötig hätten, den Beschäftigten niedrigere Löhne abringen können?

Das mag im Einzelfall sein. Aber wenn man über die Grenzen hinausschaut, zeigt sich ein anderes Bild. Die Gewinne der deutschen Unternehmen, also die Renditeziffern, sind im internationalen Vergleich wahrlich nicht sehr hoch. Das heißt, die deutschen Unternehmen haben nicht nur den Wettbewerb auf den Produktmärkten zu bestehen, sondern sie brauchen auch Kapital, um die Produktion zu finanzieren. Dieses Kapital muss auch verzinst werden und geht dorthin, wo es die besten Zinsen kriegt. Auch hierbei haben viele ausländische Unternehmen einen Vorteil.

Wäre der Idealzustand für jeden Unternehmer, gar keine Löhne zu zahlen?

Jeder Unternehmer hat ein Interesse daran, dass ein vernünftiges Verhältnis von Kosten und Erlösen zustande kommt. Schauen Sie, Anfang der neunziger Jahre haben die deutschen Unternehmen sehr stark in Ungarn investiert. Diese Investitionen haben dazu beigetragen, dass an der österreichisch-ungarischen Grenze eine prosperierende Region entstanden ist. Die Unternehmen sind nicht nur dorthin gegangen, um zu produzieren, sondern auch, um sich einen Markt zu schaffen. Beides steht in einem Wechselverhältnis, und die Unternehmer wissen das. Seither werden dort beispielsweise Motoren und andere Teile von Audi produziert. Das hilft Audi, auf dem Weltmarkt konkurrenzfähige Produkte anzubieten, und vergrößert den Markt in Ungarn, weil dort Kaufkraft entsteht.

Dafür sinkt in Deutschland die Kaufkraft, weswegen die Gewerkschaften sagen, die Löhne müssten erhöht werden, um die Binnennachfrage zu stärken.

Ich bin dafür, die Binnennachfrage zu stärken. Aber nicht durch höhere Löhne, sondern durch eine höhere Beschäftigung. Ob diese zustande kommt, hängt unter anderem von der Lohnpolitik ab. Ein Arbeitsplatz entsteht aber nicht, wenn die Kosten höher sind als die Wertschöpfung. Die Arbeitskosten gehören zu den wesentlichen Faktoren und können zudem im heimischen Bereich beeinflusst werden, anders als etwa die Energiepreise oder die Kapitalverzinsung. Deshalb müssen wir die Löhne so justieren, dass möglichst viel Wertschöpfung in Deutschland rentabel für die Unternehmen ist.

»Wachstum schafft Arbeitsplätze«, lautet ein Glaubensgrundsatz der Unternehmerverbände. Aber in den vergangenen Jahren ist die Arbeitslosigkeit trotz aller Aufschwünge ­stetig gestiegen. Man spricht von jobless growth.

Das Problem in Deutschland ist, dass die Aufschwünge in der Amplitude so gering ausfallen, dass der Arbeitsmarkt gar nicht mehr in Bewegung kommt. Die Politik hat es sich leicht gemacht, indem sie einfach auf den Aufschwung gewartet hat. Inzwischen muss sie erkennen, dass der Aufschwung die Probleme nicht löst.

Muss man nicht auch von einer Krise der Arbeit sprechen? Jeder Aufschwung führt zu Rationalisierungen, mit dem Ergebnis, dass immer mehr Arbeitskraft überflüssig wird.

Die Erfahrung spricht doch für das Gegenteil. Auf der europäischen oder der globalen Ebene hat in den vergangenen 20 Jahren die Zahl der Leute, die einen Arbeitsplatz bekommen haben, rapide zugenommen. Die Integration der südost­asiatischen Staaten und Chinas in die Weltwirtschaft hat Arbeitsplätze im großen Stil geschaffen. Aber wir haben auf dem deutschen Arbeitsmarkt zu wenig davon profitiert. Da spielen die Löhne eine zentrale Löhne, aber auch die Sozialabgaben.

Wir sind im Export so gut, weil wir mit Hilfe der internationalen Arbeitsteilung hochproduktive Arbeitsplätze organisieren können. In der Binnenwirtschaft gelingt uns das nicht, weil Abgabenstrukturen die Entstehung von Arbeitsteiligkeit in arbeitsintensiven Bereichen behindert. Knapp 50 Prozent der Wertschöpfung, die ein Arbeitnehmer erbringen muss, um seine Arbeitskosten zu decken, muss er in Form von Steuern und Sozialabgaben an den Staat abführen, so dass gerade mal etwas mehr als die Hälfte netto in seiner Tasche landen.

Hat es Sie enttäuscht, dass der Regierungswechsel nicht ganz geklappt hat?

Auch mit der rot-grünen Bundesregierung hatten wir Übereinstimmungen, etwa bei der Reform des Arbeitsmarktes. Entscheidend ist für uns, welche Probleme eine Regierung aufgreift und ob sie dies in einer ökonomisch sinnvollen Weise macht. Eine erste Bewährungsfrage für die neue Regierung wird die Reform des Gesundheitswesens sein.

Muss man Marx gelesen haben, um Chefvolkswirt des Arbeitgeberverbandes zu werden?

Man muss es nicht, aber es hilft.

interview: deniz yücel und stefan wirner