Nicht alles ist verschwunden

Infolge der gesellschaftlichen Krise und dank der sozialen Bewegungen ist der neoliberale Diskurs auf dem lateinamerikanischen Kontinent verstummt. Die neoliberalen Lebensbedingungen aber haben sich nicht verändert. von colectivo situaciones, buenos aires

Die gesellschaftliche Krise in Argentinien, die sowohl in politischer als auch in ökonomischer Hinsicht beispiellos war, hat neue Formen der Selbstorganisation hervorgebracht. Unter schwierigen Bedingungen und inmitten des vom Neoliberalismus erklärten Krieges begannen verschiedene soziale Bewegungen damit, neue Lebensformen zu entwickeln. Sie konnten eine neue Macht außerhalb von politischen Parteien und Gewerkschaften entfalten, sie interpretierten und handelten anders, und sie schafften es, Verbindungen zwischen den verschiedenen Gruppen herzustellen.

Während der Tage des Aufstands im Dezember 2001, der unter der Losung »Alle sollen verschwinden!« stand, offenbarte sich eine ungeahnte Fähigkeit von weiten Teilen der argentinischen Bevölkerung, die staatliche Macht infrage zu stellen. Seit zwei Jahren aber schwindet diese Gegenmacht.

Zugleich zeigt sich das gegenwärtige Argentinien als ein Land, in dem die staatliche Souveränität erneuert wurde, in dem die Bevölkerung wieder repräsentiert wird und das sich an einem anderen gesellschaftlichen und ökonomischen Modell orientiert. Auch wenn diese Selbstdarstellung nur bedingt der Wahrheit entspricht, steht sie doch in einem engen Zusammenhang mit der Krise, in die die neoliberale Politik geraten war. In ihr zeigt sich aber auch die Kontinuität der alten politischen und ökonomischen Herrschaftsformen. Schließlich spiegelt sich darin das Verhältnis zwischen den Bewegungen und der Regierung Nestór Kirchners wider.

Etwas mehr als zwei Jahre nach dessen Amtsantritt ist die Widersprüchlichkeit dieses Verhältnisses offensichtlich. Der Neoliberalismus hat jegliche Legitimität verloren, während die tatsächlichen gesellschaftlichen Lebensbedingungen so sind, als wäre nichts geschehen. In dem Moment, in dem die sozialen Bewegungen in einer radikalen Weise nach einer neuen Sprache und einer neuen Praxis für den politischen Kampf suchten und in der Autonomie die geeignete Form der politischen Organisation erkannten, wurden sie mit einer fortschrittlich auftretenden Regierung konfrontiert, die es ohne sie vermutlich erst gar nicht gegeben hätte.

Wie hätten sie darauf reagieren können? Hätten sie die neue Legitimation des Staates anerkennen sollen, die Kirchner dadurch herstellte, dass er den Diskurs und die Symbole der Proteste von 2001 aufnahm? Oder hätten sie die Zusammenarbeit mit Kirchner verweigern sollen? Im einen Fall hätten sie zur Wiederherstellung der Staatlichkeit und der alten Herrschaftsformen beigetragen, im anderen hätten sie riskiert, dass sie ihren gesellschaft­lichen Einfluss verlieren und dazu gezwungen wären, unter veränderten Bedingungen die Gegenmacht mühsam wiederaufzubauen.

Die meisten entschieden sich für die erste Option. Dadurch ist heute der Versuch, ein eigenes politisches Feld von und für die Bewegungen zu öffnen, geschwächt. Die Herausforderung besteht darin, die weitgehend verschlossenen Perspektiven und Möglichkeiten von neuem zu entwickeln. Dabei muss sowohl über die rein sozioökonomische Ebene, die sich darauf beschränkt, dass Bewegungen und Regierungen in bestimmten Punkten miteinander verhandeln, als auch über das Leitbild eines ausschließlich repräsentativen politischen Systems hinausgegangen werden.

In den Jahren 2001 bis 2003 traten an die Stelle der zerfallenden repräsentativen, staatlichen Institutionen die sozialen Bewegungen und ihre gemeinsamen, koordinierten Artikulationen. In den vergangenen zwei Jahren hingegen hat die Neuzusammensetzung der staatlichen Macht diesen Raum zurückerobert. Darauf haben die Bewegungen bislang keine Antwort gefunden.

Andererseits sind nach dem Amtsantritt von Kirchner neue Formen und Praktiken des Widerstands entstanden. Es gibt neue Akteure, die sich gegen die vom Neoliberalismus diktierten Lebensbedingungen der Menschen wenden: beispielsweise die Proteste gegen die private Wasserversorgung, die Arbeitskämpfe bei den privatisierten Verkehrsunternehmen, die Mobilisierungen gegen die Verhältnisse in staatlichen Schulen oder die Organisation der Opfer und Angehörigen nach der Katastrophe von Cromañón im Januar 2005, die die staatlichen und wirtschaftlichen Akteure für den Tod von knapp 200 Jugendlichen bei dem Brand in einer Diskothek verantwortlich macht.

Die argentinischen Verhältnisse können außerdem nur vor dem Hintergrund der Lage in ganz Latein­ame­rika beurteilt werden. Die dortigen Diskussionen und Entwicklungen, die aus der Ferne bisweilen recht idealisiert wahrgenommen werden, haben einen großen Einfluss darauf, was in unserem Land passiert. So haben die Auseinandersetzungen, wie sie seit drei Jahren in Bolivien geführt werden, auch hierzulande eine neue Debatte über die Verteilung der natürlichen Ressourcen ausgelöst, auch in Argentinien melden sich Indígenas zu Wort.

Nicht nur in Argentinien, sondern auch in Uruguay, Brasilien, Venezuela und Bolivien und in einigen Monaten wahrscheinlich in Mexiko, sind Regierungen an der Macht, die ungeachtet aller Unterschiede einige Gemeinsamkeiten haben: Sie lehnen den neoliberalen Diskurs ab, streben nach neuen politischen Bündnissen zwischen den Staaten Lateinamerikas, verschaffen aber auch dem Staat durch veränderte wirtschaftliche und gesellschaftliche Akzente eine neue Legitimität.

Überall waren es soziale Bewegungen, die als erste in einer organisierten Form die Unzufriedenheit über den Neoliberalismus und all seine Auswirkungen artikulierten. Sie forderten grundlegend neue Beziehungen zwischen Regierenden und Regierten, thematisierten die Verwendung natürlicher Ressourcen und lehnten militärische Lösungen von Konflikten ab. Zwar erweiterten sie dadurch das politische Feld, doch ihre Stärke führte auch zu der ambivalenten Situation: dem Post-Washington-Konsens.

Hatte der »Washington Konsens« das neoliberale Programm von Deregulierung, Privatisierung und Abbau staatlicher Sozialleistungen lauthals verkündet, zeichnet sich der Post-Washington-Konsens durch eine paradoxe Situation aus: Die neoliberalen Lebensbedingungen, die durch den Zusammenbruch der vormaligen (wohl­fahrts)staatlichen Strukturen und Entwicklungsmodelle entstanden waren, existieren unverändert weiter, nur der neoliberale Diskurs der neunziger Jahre ist verschwunden.

Im Falle Brasiliens und Uruguays kommt hinzu, dass die jetzigen Regierungen, anders als in Argentinien, unmittelbar aus der jahrzehntelangen geduldigen politischen Organisation der Bevölkerung und der Linken hervorgegangenen sind. Auf ihnen lasteten die Hoffnungen auf eine neue politische Repräsentation. Deshalb wirkt sich in Brasilien die Ernüchterung über die Politik der Arbeiterpartei auch auf die sozialen Bewegungen aus, die in die Regierung einbezogen waren oder es noch immer sind. Der uruguayische Frente Amplio hingegen bezieht die Bewegungen bislang kaum in ihre Politik mit ein, was durchaus zu ihrem Scheitern führen könnte.

Eines haben beide Fälle aber gemeinsam, nämlich die Gefahr, dass die sozia­len Bewegungen all ihre Hoffnungen und Erwartungen auf die politische Repräsentation innerhalb eines klassisch gedachten, souveränen Nationalstaats setzen und dadurch ihre eigene Vorstellungskraft einschränken.

Noch offenkundiger ist diese widersprüchliche Situation in Venezuela. Die dortigen sozialen Bewegungen haben sich fast ausnahmslos für die Unterstützung von Hugo Chávez ausgesprochen. Dafür können sie unter einzigartigen Bedingungen arbeiten. Die von den Bewegungen forcierte Debatte über die Verwendung der natürlichen Ressourcen des Landes wiederum konnte Chá­vez dafür nutzen, den geopolitischen und wirtschaftlichen Einfluss Venezuelas auf dem ganzen Kontinent zu erweitern. Die entscheidende Frage für die Zukunft wird sein, ob die Protagonisten der bolivarianischen Bewegung ihre politische Vorstellungskraft erweitern oder ob sie sich vollständig der staatlichen Führung unterordnen werden.

Diese Fragen sind in Lateinamerika, einem Kontinent, wo Gewalt als Mittel zur Lösung politischer Konflikte weiterhin auf der Tagesordnung steht, von großer Bedeutung. Die militärische Aufrüstung des Kontinents, die der Eroberung der natürlichen Ressourcen und der Bekämpfung gesellschaftlichen Widerstands dient, dauert vor allem in Kolumbien und den Andenstaaten unverändert fort. Aber auch Paraguay wird dazu angehalten, die Stationierung ausländischer Truppen im Land weiter auszubauen.

Deshalb müssen die Beziehungen zwischen Regierungen und Bewegungen, aber auch der Regierungen, Regionen und Regionalmächte untereinander in der Zukunft grundlegend überdacht werden. Argentinien ist dafür gegenwärtig kein Pionier. Vorbildlich ist derzeit eher Bolivien, wo die sozialen Bewegungen tatsächlich einen Krieg gegen die koloniale Struktur des Staats führen und eine Abspaltung einzelner Provinzen riskieren. Vorbildlich ist auch Chiapas. Die Sechste Erklärung der Zapatisten bietet zwar keinen Masterplan dafür, wie die Politik der Bewegungen gegenüber dem Staat grundsätzlich aussehen muss, aber sie enthält eine Reihe von Elementen, die die Diskussion darüber voranbringen könnten.