»Die Jugend ist friedlich«

Ein Gespräch mit klaus farin vom Berliner Archiv der Jugendkulturen über die Gewalt an Schulen, die Rolle der Medien und die Vorurteile gegenüber Jugendlichen

Berichte über Jugendgewalt kennt man seit Jahrzehnten. Worin besteht der Unterschied zu der Sichtweise, die man etwa in den fünfziger oder sechziger Jahren auf die so genannten Halbstarken hatte?

Damals standen nicht sofort fünf Fernsehsender vor der Tür und haben darüber berichtet. Die Perspektive ist eine andere, weil heute jede Gewalttat sofort von den Medien aufgegriffen wird. Dadurch entsteht der Eindruck, es gebe mehr Gewalt. Zu meiner Schülerzeit ist auch einmal ein Neonazi mit der Gaspistole hinter uns Linken in der Schule hergelaufen, aber er hat sich anschließend nur in einem ganz kleinen Artikel in der Lokalzeitung wiedergefunden. Heute stünden Fernsehteams vor der Tür, und es gäbe lange Berichte über neue Gewaltfälle an Schulen.

Also teilen Sie die These, dass die Gewalt an den Schulen an sich gar nicht angewachsen sei?

Ja. Wir haben es, obwohl sich die Lebensbedingungen von Jugendlichen immer mehr verschlechtern, mit einer erstaunlich friedlichen Jugend zu tun. Es sind nur rund fünf bis sieben Prozent der Jugendlichen, je nach Bundesland, die durch Gewalttaten auf sich aufmerksam machen. Es gibt keine einzige Untersuchung, die besagt, dass die Gewalt pauschal zunehme. Das Hauptrisiko an Schulen, Körperverletzungen zu erleiden, ist nach wie vor der Sportunterricht.

Das hieße, dass das, was man jetzt in den Medien erfährt, über die Banden, die Gewalt, über den Berliner Stadtteil Neukölln, eine Projektion ist und nicht viel mit der Realität zu tun hat?

Natürlich gibt es Gewalt unter Jugendlichen, also auch an Schulen. Man darf nur nicht aus Minderheiten von Jugendlichen, die gewalttätig sind, folgern, die Mehrheit oder gar die Mehrheit der jugendlichen Migranten wäre so. Jeder Einzelfall ist bedeutsam, aber die Verallgemeinerung ist schlicht ein Vorurteil gegenüber Jugendlichen.

Agieren die Jugendlichen in Neukölln heute anders als migrantische Jugendliche in den siebziger Jahren?

Im Detail sicherlich. Aber schon die achtziger Jahre waren die Hochzeit von Gangs. Eberhard Seidel und ich haben bereits 1991 ein Buch veröffentlicht, das den damals spektakulären Titel »Krieg in den Städten« trug. Darin ging es unter anderem um die Gangszene in Neukölln. Alles, was wir dort beschrieben haben, findet heute auch statt, nur dass es jetzt die kleineren Brüder sind.

Wie unterscheidet sich die Situation einer Hauptschule in Neukölln von der einer Hauptschule in Dessau?

Natürlich ist es schwieriger für die Lehrer und für alle Beteiligten, wenn man 80 Prozent Migranten in einer Schule oder in einer Klasse hat. Man muss sich mehr kümmern. Es erfordert mehr Motivation, denn wenn migrantische Jugendliche in einer Schule die Stärkeren sind und die »Deutschstämmigen« die Minderheit werden, dreht sich die gesellschaftliche Realität um. Jugendliche Migranten, die sonst immer Minderheiten sind, werden plötzlich zu den Starken. Das führt zu Kon­flik­ten, wenn keine Maßnahmen ergriffen werden, um das Schulklima zu verbessern. Das ist offenbar in dieser Neuköllner Schule verpasst worden.

An Schulen, an denen sich Perspektivlosigkeit breit macht und die Schüler wissen, dass sie später keine Chance haben, klagen Lehrer immer, dass es sehr schwierig sei und dass ein hoher Grad an Vandalismus in der Schule herrsche. Das hat mehr mit der Hoffnungslosigkeit von Jugendlichen zu tun, nicht mit dem ethnischen Hintergrund. Insofern findet man solche Phänomene auch in Ostdeutschland.

Selbstverständlich gibt es in Neukölln eine Besonderheit, eben weil es nicht »deutschstämmige« Jugendliche sind, die dort aufgefallen sind, sondern Jugendliche migrantischer Herkunft. Dadurch ist ein zusätzlicher gesellschaftlicher Hintergrund gegeben. Minderheiten schließen sich enger zusammen als die deutsche Mehrheit.

Welche Rolle spielen Mädchen in diesen Auseinandersetzungen?

In gewalttätigen Auseinandersetzungen spielen Mädchen als aktive Täterinnen kaum eine Rolle. Über 90 Prozent der Gewalttäter sind männlich, was nicht heißt, dass Mädchen immer nett und brav sind. Sie suchen andere Formen der Auseinandersetzung. Ihr Kommunikationsverhalten ist differenzierter, da gehört verbales Dissen dazu, Verachten, Ausgrenzen, psychologische Methoden usw. Und durchaus auch mal, die Herren der Schöpfung zu Gewalttaten anzustacheln.

Ist die Situation für die Mädchen eine andere, wenn die Schüler hauptsächlich Muslime sind?

Natürlich hat jede Community eigene Vorstellungen von Männlichkeit. Es ist ja nicht zu übersehen, dass viele Jugendliche türkischer oder arabischer Herkunft ausgeprägte Machos sind. Das hat aber weniger mit den Genen zu tun, sondern mit ihrer Situation als Minderheit und dem Aufwachsen in patriarchalen Familienstrukturen und Erziehungsverhältnissen, die aus Jungs schon sehr früh Machos machen. Diese Jugendlichen wachsen häufig auch in der Familie gewalttätiger auf als »deutschstämmige« Jugendliche heute. Insofern ist das Verhalten ein anderes.

Wird die integrative Rolle der Schule insgesamt überschätzt?

Ja, insofern, als dass die Schule nicht Ursache für jegliches Verhalten ist. Dafür kommt die Schule erstens zu spät, und zweitens ist sie nur ein Faktor von vielen. Schule kann eingreifen, kann Menschen verändern. Schulen können Jugendlichen durchaus auch ein posi­tives Verhältnis zu ihrer Umwelt geben.

Die übliche Reaktion von Schulen auf negative Entwicklungen ist aber leider, dass man diese aus Bequemlichkeit oder Angst, die Schule könnte einen Imageverlust erleiden, völlig ignoriert, oder man reagiert ausschließlich repressiv. Beides geht immer schief. Die einzig sinnvolle Reaktion ist, differenzierter damit umzugehen, sich um die Jugendlichen zu kümmern, ihnen positive Angebote zu machen und die Opfer nicht im Stich zu lassen. Und falls das die Schule selbst überfordert: rechtzeitig um Hilfe rufen, sich beraten lassen.

Welche Rolle spielen Ereignisse wie der 11. September oder die palästinensische Inti­fada für Jugendliche arabischer oder türkischer Herkunft? Haben sie zu einer Radikalisierung beigetragen?

Nicht wirklich. Solche Ereignisse haben eher eine Bedeutung wegen der Reaktion der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Wenn diese plötzlich jeden arabischen Jugendlichen skeptisch anguckt und als potenziellen Terroristen betrachtet, dann reagieren die Jugendlichen darauf natürlich ebenso aggressiv bzw. mit Rückzug in eine Parallelwelt ohne Deutsche. Das kann die multikulturelle Straßengang sein oder auch religiöses Eiferertum. Wenn man ausgegrenzt wird, ist das Interesse, sich zu integrieren, nicht sehr groß. Solche Ereignisse spielen eher eine Rolle, weil sie auch Rassismus oder Antisemitismus, den man auch bei einem Teil der Migrantenjugendlichen vorfindet, befördern.

interview: stefan wirner