Die Boheme strebt

Die Boheme ist auch nicht mehr das, was sie mal war. Ein Text aus der Niemandsbucht von ambros waibel

Den Soundtrack zu meinem frühen Bohemeleben lieferten die Lassie Singers. Ich hatte nie das Bedürfnis, viel Musik zu hören, gar darüber zu schreiben oder mich mit dem lächerlichen Jargon der Musikzeitschriften abzugeben. All diese Leute, die aus Feigheit behaupteten, Musik zu hören, sei eine irgendwie politische, linke Tätigkeit, stehen ja inzwischen auch vollständig entblößt da.

Die Lassie Singers aber habe ich gehört, immer im Auto, immer in Italien, in den 36 freien Stunden, die meine Reiseleiterexistenz mir ließ. Gleich nach der Abschlussbespaßung, die den so genannten Familientag einläutete, überließen wir unsere Gäste sich selbst, setzten uns in ein klappriges Auto und fuhren los. Am Steuer saß die jeweilige Kollegin, die in diesen Sommermonaten der beste Kumpel war, ob wir nun miteinander schliefen oder die Spannung hielten oder schlicht nicht aufeinander standen. Wir fuhren in eine Freiheit, die nur entfremdete Arbeit bieten kann, mit den Lassie Singers durch die Nacht an ein Meer, hörten die Songs »Schlafen kann ich, wenn ich tot bin« und »Verliebt bin ich sowieso« und das nun in der Tat bedeutende Lied »Nur weil wir keine vernünftige Ausbildung haben, machen wir den ganzen Scheiß«. Das traf es – obwohl es nicht stimmte.

Denn in meinem frühen Bohemeleben habe ich selten weniger als zehn Stunden geschlafen. Arbeit war eine Droge, die man sich einmal im Jahr gönnte. Liebe wurde in den »Regeln der Boheme«, die ich Mitte der neunziger Jahre in einem Winkelblatt veröffentlichte, kritisch gesehen. »Wer sich verliebt, scheidet aus«, hieß es da, und: »Bisher sind alle, die sich verliebt haben, zurückgekommen.«

An eine Ausbildung, die irgendetwas anderes meinte als persönliche Bildung, Herzensbildung von mir aus, hatte ich nie gedacht. Wie konnte man von Haus aus so kaputtgetreten sein, dass man sich überlegte, ob man mit dem, was man konnte oder wollte, irgendein »Arbeitsmarktprofil« erfüllte, beziehungsweise: Wie kann man das sein? Weitere Regeln lauteten: »Es muss später als Vier werden« , »Jede Droge nehmen« sowie schließlich die wichtige und daher leicht kryptische Regel, »Es gibt kein Weinen im Geheimen.«

Und so bekenne ich, dass ich jetzt in einem Garten am Bodensee sitze, im Urlaub im Haus der Schwiegereltern (was für ein Wort!), umgeben von Annehmlichkeiten, die 40 Jahre fleißige Arbeit geschaffen haben, regionaltypische Parisienne rauche und Bier der Marke »Tannenzäpfle« trinke und nach Berlin telefonierend recherchiere. »Albert, wie geht’s?« »Na ja, der Urlaub war toll, ich weiß nicht, ob wir in Schweden oder Dänemark waren, irgendwo da oben, im Haus einer befreundeten Verlegerin jedenfalls, wunderschön, jetzt ist das Konto leer, das Finanzamt sitzt mir im Nacken, der Server macht Zicken, Sonjas Arbeitslosengeld ist immer noch nicht überwiesen, wir können die Miete nicht zahlen, mein Baby ist krank, ich hab’ keinen Pfennig in der Tasche, lass uns nächste Woche auf ein paar Bier treffen, dann erzähl’ ich dir alles.« Danke Albert, so machen wir’s! Und ich rufe Volker an und frage: »Volker, wie geht’s?« Und Volker erzählt, dass er jetzt Berufsschullehrer irgendwo im Süden werde, wie sie ihn anöde, diese kulturlinke Szene in Berlin und anderswo, und er kenne sie alle, diese ganze grundverlogene, lächerlich eingebildete Bagage, und, sagt Volker, der große linksradikale Idealist: »Diese Typen – was für eine Enttäuschung!« Volker, wie geht’s? »Ambros«, sagt er, »fast 40 Jahre und keine Schwielen an den Händen – es gibt absolut keinen Grund dafür, sich zu beklagen.«

Nur die Jungen bieten etwas Neues, und sie sind nicht sehr lange jung, hat William S. Burroughs gesagt. Und von Jungen verstand Burroughs eine ganze Menge. Eine Boheme, die ihren Namen verdient, ist jedem Alter entwachsen. Sie definiert sich schlicht darüber, dass sie nie aufhört, die Hand zu beißen, die sie füttert. Deswegen ist die Boheme arm, eher moralistisch als politisch und unbedingt uneinsetzbar.

Das hat auch mit ihrer sozialen Zusammensetzung zu tun. Denn die Bo­heme bestand immer aus Fortgelaufenen, mit denen die zuständigen und ewigen Quäler ganz anderes vor hatten, und natürlich waren alle immer eigentlich Künstler. Das ewige Warten der Boheme auf den großen Durchbruch provoziert geradezu Kneipengehocke, Promiskuität und Drogengebrauch.

Was allerdings geschieht, wenn die ernste, die unbarmherzige Kunst sich einen solchen Bohemien greift, hat Jörg Fauser in einem wunderbaren Gedicht gefasst. Balzac holt sich darin aus der Schar der Pariser Gammler einen raus und will ihn als Hilfskraft, als »Neger« einsetzen, der seinen Ideen und seinem rigorosen Arbeitsplan folgend Theaterstücke produzieren soll, damit Balzac endlich, endlich reich wird. Aber der Bohemien ergreift bereits in der ersten Nacht eingeschüchtert die Flucht. Er will zwar arbeiten, aber er kann es einfach nicht, er bekommt Hautausschläge und nervöse Zusammenbrüche.

Es hat allerdings in der Geschichte mindestens einmal, in den USA der zwanziger und dreißiger Jahre – einer Epoche, die Dorothy Parker das »Klugscheißerstadium unserer Geschichte« nannte –, eine erfolgreiche Boheme gegeben. Ihr Star war Samuel Dashiell Hammett. Bettelarm und schwer tuberkulös schrieb er vier Romane, die einen modernen Mythos begründeten, den des hard-boiled-Detektivs. Er verdiente unglaublich viel Geld, aber statt zu einem öden, anständigen Autor wurde er der marxistischste Amerikaner, den es je gegeben hat. Sein Motto, für das er als alter Mann noch ins Gefängnis ging, war: Die Dinge gehören den Menschen, die sie am nötigsten brauchen. Er verschenkte, verschleuderte sein Geld, weil er nicht mochte, was das Geld anrichtete, und obwohl er nicht selten ein widerlicher Bastard war, hatte er das Glück, dass ein geliebter Mensch seine Hand hielt, als er starb.

Dass Gott sich am Ende des Bohemiens erbarmen werde, gerade weil er ein Sünder ist, sangen schon die mittelalterlichen Vaganten. Wenn an der Wiederkehr des Religiösen irgendwas dran ist, müsste das Bohemelager eigentlich gut gefüllt sein.

Aber in einer Gesellschaft, in der das Herumkrebsen am Existenzminimum zum Volkssport geworden ist, in der man lieber jammert und darbt, als ein paar Dutzend Autos anzuzünden, in Deutschland also, wo der Hungerkünstler schon immer ein Ideal war, in diesem lahmen Umfeld muss sich die Boheme etwas Neues einfallen lassen. Wenn alle Winkel, in die sie sich einnisten konnte, sozialpolitisch ausgeleuchtet und versiegelt werden, muss die Boheme etwas tun, was sie noch nie getan hat: Sie muss sich stellen. Sie muss eine vernünftige Ausbildung machen, muss Kinder zeugen, muss Berufsschullehrer werden.

Und in all die Institutionen, in die sie damit zwangsläufig gerät, muss sie den Geist des radikalen Unernstes, der Entspanntheit, der Muße und des Genusses tragen, so, wie aus den Gammlern der sechziger Jahre die engagierten und fleißigen Achtundsechziger wurden. Dass deren Kinder missrieten und, statt die Erdkugel zu verändern, vertrotzt und dümmlich behaupteten, sie sei in Wirklichkeit eine Scheibe, die sich auf einem Plattenteller drehe – darüber haben wir schon gesprochen.