Schlechte Träume

Der israelische Staat ist bedroht. Auf dem Filmfestival in Jerusalem wird er kritisiert. von julia anspach

Die Kritik am Staat Israel und der ­israelischen Gesellschaft steht im Zentrum vieler israelischer Dokumentar- und Spielfilme, die auf dem 23. In­ternationalen Filmfestival in Jerusalem präsentiert wurden. Meist ist es eine harte Kritik, die sich an die israelische Gesellschaft und ihre Politik wendet, die einmal in lauten Dialogen, dann wieder in eindringlichen Bildern zum Nachdenken und zur Auseinandersetzung auffordert. Häufig setzt diese Kritik die genaue Kenntnis des Staates und seiner Geschichte und das Verständnis seiner Mythen, Symbole und Geheim­nisse voraus.

»Description of a memory«, Beschreibung einer Erinnerung, ist der Versuch einer filmischen Dekonstruktion von Erinnerung, von zionistischen Mythen und Symbolen. Der Film greift damit den Staat in seinen Grundfesten an. Der Filme­macher Dan Geva folgt den Bildern des impressionistischen Films »Description of a struggle« von Chris Marker aus dem Jahr 1961 über die damals noch ganz junge Geschichte des Staates, analysiert sie und stellt sie in 13 persönlichen Erinnerungen infrage: Was sagen die Bilder aus, was repräsentieren sie? Was symbolisieren die Menschen auf den Bildern, und was ist, fast 50 Jahre später, aus ihnen geworden? Konnten sie ihre Träume verwirklichen?

Eine malende junge Frau stellte Marker als repräsentativ für den Staat Israel vor: Die Frau, die nie wieder Anne Frank sein wird. So beginnt auch Geva seinen Film, er analysiert die Aufnahme, weist auf unbedeutende Kleinigkeiten der Einstellung hin und konfrontiert den Zuschauer im Wechsel mit ganz anderen Bildern. Der Junge Ali fährt auf einem Roller die Straße in Haifa hinunter und träumt von der Zukunft. Dann, knapp 50 Jahre, nachdem diese Aufnahme entstanden ist, fragt eine Stimme aus dem Off: »Where have all the ›Alis‹ gone?« Der Film läuft rückwärts; ein Traum ist gescheitert. Ein »anderer Ali«, dessen Aufnahmen aus der Jerusalemer Altstadt in schneller Montage mit denen des »Ali« aus Haifa kontrastiert werden, träume heute »of blasting himself under others«.

Jump Cuts in der Erzählung symbolisieren historische Brüche; langsame Kamerafahrten durch Reihen von Soldaten kritisie­ren die Bedeutung des Militärs; trostlose Aufnahmen von Panzern und zerstörten Häusern verurteilen die militärische Gewalt Israels; eine Aufnahme mit Fischauge von einem Jungen, der an der Sicherheitsmauer entlanggeht, suggeriert Hoffnungslosigkeit. Terrorismus, Attentate, also die Gründe für den Sicherheitszaun, werden ausgeklammert. Der Traum des Jungen Ali, sich inmitten einer Menschenmenge in die Luft zu sprengen, bleibt unkommentiert, lediglich die Gewalt Israels wird als solche diagnostiziert.

Der Film endet mit der malenden Frau aus der Anfangssequenz und zeigt sie Jahrzehnte später in London. Nun erfährt man: Sie malt Bilder von Häusern in Griechenland, Italien, Spanien, England. Die Frau, die den Staat symbolisierte, hat dem Staat den Rücken ge­kehrt. Doch sie malt Häuser, als träume sie von einem Zuhause.

Filme wie »Hebrew Lesson« über Neu­einwanderer in einer hebräischen Sprach­­schule, »Paper Dolls« über eine Gruppe Transsexueller von den Philippinen, die als illegal Beschäftigte abgeschoben wer­den, und »A working Mom« über eine bolivianische Frau, die aufgrund ihrer Armut gezwungen ist, Familie und Kind zurückzulassen und in Israel Geld für die Zurückgebliebenen in Bolivien zu erarbeiten, beleuchten verschiedene aktuelle soziale und politische Probleme, die wohl in den meisten Län­dern der Welt existieren.

Andere Filme fokussieren den israelisch-palästinensischen Konflikt. So erzählt Julie Gals »October’s Cry« von den Ereignissen und Folgen des Oktober 2000, als bei Ausschreitungen während Demonstrationen arabischer Is­raelis im Norden Israels 13 arabisch-israelische junge Männer und Jugend­liche und ein jüdischer Israeli getötet wurden. Aus der Perspektive der Mutter eines getöteten 17jährigen und einer Anwältin folgt die Kamera den Bemühungen um eine polizeiliche Untersuchung und beobachtet ihren Kampf gegen die Vertuschung staatlicher Verbrechen.

Mit der Dokumentation »Can you hear me? – Israeli and Palestinian Women fight for Peace« nimmt die amerikanische Filmemacherin Lilly Rivlin den Konflikt in Form einer Langzeitbeobachtung von außen in den Blick. Schon die Eingangsfrage (»Würde es Frieden geben, wenn Frauen die poli­tischen Debatten und Verhandlungen führten?«) weist darauf hin, dass die Filmemacherin sich politisch auf die Ideen der Frauenbewegung der acht­ziger Jahre bezieht. Seit 1984 besuchte Rivlin regelmäßig Israel und interview­te Friedensaktivistinnen. Mit einem distanzierten und kritischen Blick gelingt es ihr, den Protagonistinnen einen großen Handlungsradius zu lassen und die Ereignisse aus verschiedenen Per­spek­tiven zu betrachten. Tatsächlich schenkt dieser Film auch der israelischen Seite Aufmerksamkeit, indem er die Zerstörungen und Todesopfer eines Selbstmordattentats in erschreckender Deutlichkeit abbildet.

Ein anderes Thema, dem sich verschie­dene israelische und europäische Produk­tionen widmen, ist die Shoa. Die Co-Pro­duktion »Volevo solo vivere« (Italien, USA, Schweiz) nimmt die Deportation der italienischen Juden anhand der persönlichen Geschichten von neun Über­lebenden in den Blick. Der schwedische Film »Nina’s Journey« beschreibt die Jugend der polnischen Mutter der Regisseurin Lena Einhorn im semi-dokumentarischem Stil, und »La Maison de Nina« aus Frankreich porträtiert eine Frau, die sich nach der Befreiung Frankreichs in einem Waisenhaus um überlebende jüdische Kinder kümmert.

Die Dokumentation »KZ« des britischen Regisseurs Rex Bloomstein zeigt das ehemalige Konzentrationslager Maut­hausen in seiner heutigen Funktion als Gedenkstätte. Im Fokus der Aufmerksamkeit stehen die Führungen durch die Gedenkstätte, deren Bedeutung für die Gegenwart verschiedene Interviews mit alten und jungen Dorfbewohnern von Mauthausen illustrieren. So erzählt ein ehemaliger Hitlerjunge von der schönsten Zeit seines Lebens. SS-Witwen schwär­men von ihren stattlichen Männern, von der schönen Hochzeit oben im Lager, bei der die SS-Männer Spalier standen. Eine Frau erzählt von Leichenbergen, von denen die anderen Dorfbewohner nichts gewusst haben wollen.

Endgültig die Sprache verschlagen einem dann Aufnahmen aus dem Dorfgasthaus: In der »Moststub’n Frellerhof«, wo einst die SS-Männer in Sichtweite der Lagermauern ihren Spaß hatten, gönnen sich heute die Touristengruppen eine Pause, man tanzt Schuhplattler. In Großaufnahmen fängt die Kamera die Schuhe der österreichischen Trachtenträger ein, der Rhythmus ihrer Sprünge verdrängt das vordergründige Bild: Hier wird marschiert. Fröhlich trällert ein Gesangsduo, wie »herrlich und nett« doch die »Moststub’n oben beim KZ« ist.

Diese Bilder sprechen für sich. Andere Einstellungen lassen einen Kommentar vermissen. »Hey, Kinder Israels, schämt ihr euch nicht für das Leid der Palästinen­ser?« Der Eintrag im Gästebuch wäre eine Chance gewesen, den zunehmenden, als Kritik am Staat Israel getarnten Antisemitismus in Europa zu thematisieren. Die Chance blieb leider ungenutzt.