Arkadien des Südens

Klimawandel und Lebensgefühl. Zur Sozialgeschichte des Sommers, Dritter Teil. von rudi thiessen

Das Ende der vier Jahreszeiten

Für Italien gilt, dass mit der zunehmenden Entfernung von den Alpen die vier Jahreszeiten verschwinden und die Regenzeit im Winter und die Trockenzeit im Sommer verbleiben. Das ist der Flora außerordentlich abträglich. Wenn die Tage lang genug sind und die Sonnenbestrahlung intensiv ist, mangelt es an Wasser. Und wenn das Wasser kommt, fehlt die zum Gedeihen notwendige Wärme. Dieser einfache klimatische Sachverhalt erzwingt, dass die italienische Kultur, wie alle mediterranen, eine Bewässerungskultur ist und dass den Quellen und ihrem Wasser ein heiliger Nimbus zukommt und ihre Nymphen verehrt werden.

Je nach dem Stand und den Möglichkeiten der Bewässerung stellen sich Macchia, Wüstenflora oder Paradiese ein. In den hügeligen und gebirgigen Zonen wird die Kultivierung von eben dem Element bedroht, das sie ermöglicht. In jedem Winter drohen die gewaltigen Regengüsse die Erde abzu­schwem­men und nichts als Geröllhalden zu hinterlassen. Die Hügel müssen terrassiert, mit Mäuerchen gesäumt, die Felder mit Zypressen, Weiden, Pappeln umpflanzt und vor den Stürmen geschützt werden. Dadurch entsteht jener typische Rhythmus italienischer Landschaft, der sich also keineswegs einem natürlichen Arkadien verdankt, sondern in Jahrtausende langer Kultivierung sehr besonderen klimatischen Verhältnissen abgerungen wurde. Wenn sich diese ändern, wird es prekär.

Dass sie sich geändert haben, lässt sich derzeit recht unbedrohlich am Lido di Venezia erleben. Noch vor 30 Jahren wurde es dort Anfang September höchste Zeit, die Zelte abzubrechen, schließlich drohten die schweren Herbststürme, die sich mit grünen Gewitterwolken ankündigten. Die Gewitter gibt es noch, aber auf die Herbststürme muss man bis spät in den November warten.

Die klimatische Erwärmung hat in Italien schon heute zur Folge, dass auch im Norden Frühjahr und Herbst zu kurzen Übergangsperioden geschrumpft sind. In der Poebene hat das weit dramatischere Folgen. Da die Schneeschmelze früher und heftiger einsetzt, sich also in einem viel kürzeren Zeitraum ereignet, führen der Po und seine Nebenflüsse im kurzen Frühjahr sehr viel Wasser, die Fruchtstände sind zunächst durchaus prächtig, doch wenn der Hochsommer beginnt, ist das zur Bewässerung notwendige Wasser längst in der Adria, Po und Adda sind zu kläglichen Rinnsalen geworden, und die Früchte des Feldes verdorren lange bevor sie geerntet werden können.

Dieser Trend setzt sich diesseits der Alpen fort. Auch hier hat das Folgen für die Flora, wenngleich diese sich noch nicht exakt bestimmen lassen und daher weniger dramatisch scheinen. Einiges zeichnet sich ab: Der Weinbau wird sich in nördlichere Regionen ausdehnen können, chronisch trockene Gebiete im Osten drohen zu versteppen.

Doch für das städtische Leben scheint die Klimaerwärmung dramatischere Folgen zu zeitigen. Die Straßencafés sind nicht nur das ganze Sommerhalbjahr – von Mitte April bis Mitte Oktober – stark frequentiert, sondern mittels Heizpilzen und Decken wird versucht, das sommerliche Leben ganzjährig zu genießen.

Sommerzeit, Ferienzeit

Historisch war der Sommer als Lebensform eine Angelegenheit der Aristokratie und des Großbürgertums. Dass man den Sommer auf dem Landgut genießt und man erst, wenn die Bauern die Ernte eingebracht haben, zurückkehrt ins gesellschaftliche Leben der Städte, deren Glanz über den dunklen Winter (so wie es in St. Petersburg im Sommer einige Wochen kaum dunkelt, wird es komplementär im Winter kaum hell) hinwegtröstet, ist geradezu eine Voraussetzung der großen russischen Literatur von Tolstoi über Cechov bis Gorki.

Auch in England ist der Sommer der Rosenzucht auf dem Landsitz gewidmet, während man den Geschäften im Regen, Nebel und Smog der Städte nachgeht. In Frankreich fährt, wer sich es leisten kann, im Sommer an die Côte d’Azur. In Italien ist es seit Tiberius Tradition, dass man im Sommer die Städte flieht. Seine Villa auf Capri wurde zum Prototyp aller späteren, und noch der gegenwärtige Papst genießt die seine in den Hügeln vor Rom.

Das protestantische Deutschland hat es zu einer solch verschwenderischen Kultur des Sommers nicht gebracht. Hier begnügte sich das Bürgertum mit der Sommerfrische. Thomas Mann an der kurischen Nehrung, Adorno in Amorbad, wohin er im Sommer 1934 trotz Lebensgefahr zurückkehrte, weil ohne die dort gewöhnte Sommerfrische ein Sommer kein Sommer war.

Auch der Massentourismus, der sich nach dem Krieg entwickelte, war eine Flucht aus den Städten. Seine Ziele waren die Strände: zunächst an der Nord- und Ostsee, dann an der adriatischen und ligurischen Küste und der Côte d’Azur, schließlich die Strände Spaniens, Jugoslawiens, Griechenlands und der Türkei. Ferien (und Ferienreisen) waren und sind eine Angelegenheit von Familien mit Kindern.

Dabei ist die kindliche Erfahrung des Sommers und der Sommerreise kulturell höchst differenziert. In Italien bedeutet der Sommer den Kindern zuerst und zuletzt vor allem eines: drei Monate schulfrei. Sicher werden auch dort die Eltern Mitte August die Städte verlassen und fahren aufs Land oder ans Meer, doch die Ziele sind meist über Familientraditionen vorgegeben. Es ist folglich weniger die Erfahrung einer Reise, als dass dieser Aufenthalt der Idee der Villa folgt, auch wenn man eine solche leider nicht besitzt.

In Deutschland verhält sich das anders. Einerseits sind die Eltern reiselustiger und andererseits macht die kümmerliche Länge der Sommerferien die Reise zwangsläufig zu deren Zentrum. So leicht es ist, über diese Art des Reisens zu spotten, so sehr bietet sie den Kindern die Möglichkeit, die Erfahrung des Reisens und der Fremde zu machen.

Die Reise hat den Status eines Abenteuers, und einige glückliche Kinder haben schon heute das Glück, mit ihren Eltern wirkliche Fremdheit zu erfahren. Die Kinderlosen hingegen nutzen zumeist die Gelegenheit, sich in einen billigen Flieger zu setzen und sich zu beliebiger Jahreszeit in den ewigen Sommer tropischer Gefilde zu begeben.

Mediterraner Lebensstil

Dass sich in deutschen Städten ein zunehmend mediterraner Lebensstil ausbildet, hat natürlich klimatische Voraussetzungen, mehr jedoch soziale. Auch hier mag ein Blick nach Italien hilfreich sein. Entgegen der landläufigen Meinung gab es in italienischen Städten, abgesehen von ausgewählten Plätzen wie vor dem jeweiligen Dom, kaum Straßencafés.

Man traf sich in der Bar auf einen Kaffee oder einen kleinen Wein, worauf man nach kurzem Aufenthalt wieder seines Weges ging. Das Rauchverbot hat alles geändert. Da die Italiener sich überraschend gesetzestreu zeigten, doch vom Rauchen nicht lassen wollten, stellt jeder Barbetreiber, so es irgend geht, Stühle und Tische nach draußen, um zu überleben.

Der Rhythmus des öffentlichen Lebens in Italien ist ein anderer geworden. In Deutschland waren es die Hausbesetzer, die ihre Wohnzimmer auf die Bürgersteige stellten. War es bis dahin äußerst schwierig gewesen, Konzessionen zu erhalten, um die Straße zu bewirtschaften, wurde es nun für die Ordnungsämter immer schwieriger, Restriktionen durchzusetzen. Und die nördliche Stadt Berlin lebt nicht nur sommers unter freiem Himmel.