Fossil aus dem Fordismus

Das Prekariat hat keine Ferien. Anmerkungen zur Geschichte des Urlaubs. von gerhard hanloser

Urlaub hieß damals, als ich noch Kind war, dass die Ferien anstrengend wurden. Meinen Eltern gefiel der Urlaub nicht besonders, also: Sachen zusammenpacken, Auto auftanken, wegfahren. Mein Vater pflegte inmitten der Urlaubsvorbereitungen entnervt zu sagen: »Diesen Scheiß haben schließlich auch die Nazis eingeführt.« Angesichts des Urlaubsstresses war es sicherlich verständlich, zur Nazi-Analogie zu greifen, historisch ganz richtig war es nicht. Bürgerliche Urlaubs- und Bildungsreisen gab es schon lange vorher. Als der Urlaub zum Massenphänomen wurde, bedeutete dies, dass nun auch wesentliche Segmente der Arbeiter- und Angestelltenschichten reisen konnten. Der »Arbeiterurlaub« war eine soziale Errungenschaft der Weimarer Republik, in der die Gewerkschaften in den Tarifverträgen das Recht auf Urlaub durchsetzten. Seltener wurde jedoch ein Urlaubsgeld, damals hieß das »Freizeitzuschuss«, gewährt.

Sozialhistoriker sprechen davon, dass die Geschichte des modernen Massentourismus in den zwanziger Jahren begonnen hat. Doch die Mischung aus groß organisierten Massenreisen, Integration der Arbeiterschaft und spektakulärer Inszenierung »freier Zeit« wurde tatsächlich von den Nazis auf die Spitze getrieben. Während in der Weimarer Republik bereits die »transzendentale Obdachlosigkeit« (Georg Lukács) um sich griff, ernteten die Nazis die Früchte der Entpolitisierung, die sie mittels Kraft-durch-Freude-Fahrten institutionalisierten, während sie den inhaltlich entleerten Radikalismus des verallgemeinerten Kleinbürgertums gegen die Nicht-Arier kanalisieren.

Die Kritiker der nach Westintegration und Marshallplan schnell wieder aufgebauten westdeutschen Gesellschaft hatten für diese barbarischen Modernisierungsimpulse und Integrationsleistungen des Nationalsozialismus einen guten Riecher. Der Schriftsteller John Steinbeck vertrat noch den amerikanischen Optimismus und verkündete: »Der Fremdenverkehr und das Reisen fördern den Frieden. Es ist beinahe unmöglich, ein Volk zu hassen, das man näher kennen gelernt hat.« Die Kulturkritiker in der BRD argumentierten da ganz anders. Paradigmatisch dafür steht Hans Magnus Enzensberger, der in den späten fünfziger Jahren die Freiheit des Reisens als Pseudofreiheit kritisierte. Eine wirklich freie Gesellschaft, meinte er in seiner Kritik, müsse nicht reisen.

Tatsächlich war das Modell des Normalarbeitsverhältnisses mit seinem garantierten Urlaub Kern der relativen Mehrwertproduktion in der fordistischen Ära. Und auch die heutige Umstrukturierung der Lohnarbeitsgesellschaft tastet den Urlaub der Kernbelegschaften nicht an. Der unternehmerische Angriff geht momentan eher auf die Arbeitszeit, nicht auf den gesetzlichen Urlaubsanspruch. Im Jahr 1994 wurde das Bundesurlaubsgesetz sogar nochmals zugunsten der Lohnabhängigen verändert und der Urlaub von 18 auf 24 Werktage verlängert.

Ist Urlaub ein Merkmal des »Wohlstands­treib­hauses« BRD (Peter Sloterdijk), wie die Apologeten des Neoliberalismus in scheinbarer Anknüpfung an die linke Kulturkritik der sechziger Jahre verkünden? Urlaub ist sicherlich die Verlängerung des Elends der Lohnarbeitsgesellschaft in die vermeintlich freie Zeit, jeder Ballermann- und Pauschalurlaub, Inbegriff der proletarischen Ferienzeit, zeigt das recht deutlich. Der Animateur und der Vorarbeiter unterscheiden sich in ihrer Impertinenz und ihrem Drängen mitzumachen nur in Nuancen.

Doch das heutige freie Proletariat, modisch: Prekariat genannt, kennt keinen Urlaub mehr. Die Unternehmen sparen sich die Kosten für bezahlten Urlaub, indem sie Arbeit vermehrt an Freie vergeben. Verglichen mit den Freelancern, dem wachsenden Segment der selbständigen Arbeiter, die weder feste Arbeitszeiten noch Urlaubsansprüche kennen, erscheint der Urlaub des fordistischen Fossils noch als klitzekleiner Vorschein auf eine Gesellschaft, die ein Reich der Freiheit für alle bereithält.