In der Hölle

Liberia, 1990. Bürgerkrieg. Eine Reportage des US-Schriftstellers Denis Johnson

Es ist Ende September, und der liberianische Bürgerkrieg ist vor drei Wochen, auf seinem Höhepunkt, zum Stillstand gekommen. Die verschiedenen Gruppierungen sieden unter schweren westafrikanischen Wolken.

Charles Taylor und seine Rebellen beherrschen einen Großteil der ländlichen Gebiete sowie den Norden der Hauptstadt Monrovia, wo sich der Radiosender befindet, und an vielen Abenden hält Taylor in seinem Winkel der Welt flammende Reden darüber, wen er getötet hat und noch zu töten gedenkt, und wirft dabei derart unbekümmert mit Zahlen um sich, dass er mittlerweile als Lügner dasteht, jener Mann, der sich selber als »Präsident dieser Nation« bezeichnet und von seinem Erzrivalen Prince Johnson so spricht, als sei er tot.

Indessen hat Prince Johnson, höchst lebendig, den größten Teil der Hauptstadt in seiner Gewalt. Johnsons Titel lauten Feldmarschall, Brigadegeneral und Amtierender Präsident Liberias; »Prince« ist nur sein Vorname. Johnsons Männer haben vor zwei Wo­chen den Präsidenten beseitigt und streifen seither durch die Stadt, um auch dessen Soldaten auszurotten, deren Leichen – bis zu 200 pro Nacht – sie in den Straßen aufhäufen oder entlang der Strände ablegen.

Sie, die dezimierten Streitkräfte Liberias, halten ein Niemandsland zwischen Taylors und Johnsons Kontrollstellen besetzt, mehr oder weniger in der Mitte der Stadt, eine im Innersten zerstörte Landschaft unerlösten Elends, wo die unablässig schrumpfende Gruppe raubt, plündert und Feuer legt, während die zum Skelett abgemagerten Ein­wohner umherirren und an Cholera oder vor Hunger sterben.

In Johnsons Sektor sind ungefähr 1 000 Soldaten der Ecowas, Economic Community of West African States, stationiert – einer aus sechzehn Nationen zusammengesetzten Organisation, die dieses Friedenskommando nach Monrovia entsandt und ihm im Kern den Auftrag erteilt hat, nichts zu tun.

Die Ecowas-Truppen haben ein seltsames Bündnis mit Prince Johnson geschlossen. Alle Welt war davon ausgegangen, dass sie ihn verhaften würden; stattdessen sahen sie tatenlos zu, wie Johnsons Männer den Präsidenten Samuel K. Doe anschossen und kidnappten, als dieser zum ersten Mal wieder vor die Tür seines Amtssitzes trat, in dem er sich wochenlang verbarrikadiert hatte; und sie gingen in Deckung, als Johnsons Rebellen das Hauptquartier der Ecowas stürmten, von Zimmer zu Zimmer liefen und 64 von Does Leibwächtern töteten.

Unterdessen warten zwei US-amerikanische Schiffe mit einem Trupp Marineinfan­teristen an Bord vor der Küste und bringen alle zur Ver­zweiflung, weil sie dort dümpeln und dümpeln, während an Land die Leichenberge anwachsen … denn niemand möchte, dass eine der beiden Rebellengruppen das Land regiert, und die Einzigen, die imstande wären, eine vernünftige Interimsregierung einzusetzen, sind die amerikanischen Marines, aus zwei für alle Liberianer absurd offensichtlichen Gründen: erstens, weil sie Amerika­ner sind, und zweitens, weil sie Marines sind.

Die Liberianer wollen keinen zweiten Putsch wie den von 1980 erleben, als Doe, damals Armeeoffizier, die Macht an sich riss und die Kabinettsmitglieder vor laufender Ka­mera am Strand hinrichten ließ. Das Exe­ku­tions­komman­do war betrunken und musste in einigen Fällen nachladen und aus geringerer Entfernung noch einmal schießen.

Hunger

Die Art und Weise, wie Doe das Land regierte, wurde allgemein als dumm und grausam empfunden. Er hielt sich zehn Jah­re lang. Auf halber Strecke überstand er einen Putsch­ver­such. Dessen Urheber, General Quiwonkpa, wur­de in Stücke zerhackt, die in der ganzen Stadt herumgezeigt wur­den, ehe Does Männer sie vor den Augen zuverlässiger Zeu­gen verspeisten, um der Kraft dieses küh­nen Thron­bewerbers teilhaftig zu werden. Jetzt, fünf Jahre später, ist Doe von Prince Johnsons Hand gestorben. Johnson behauptet, Doe sei »seinen Verletzungen erlegen«.

Die ersten amerikanischen Siedler erreichten Liberia in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts, mit finanzieller Unterstützung der American Colonization Society, die Präsident Washingtons Neffe ­Bushrod Washington ins Leben gerufen hatte. Es waren befreite amerikanische Sklaven, die auf den Kontinent ihrer Ursprünge zurückkehrten. 1847 gründeten sie einen unabhängigen Staat.

Die Amerikoliberianer, wie die Nachkommen der ersten Siedler hießen, behaupteten sich bis 1980, als Doe die Macht übernahm. In den Augen der meisten Liberianer ist ihre eigene Geschichte eng mit der amerikanischen Geschichte verknüpft. Die USA genießen in der Region geradezu mystische Verehrung. Die Liberianer wissen nicht, dass die meisten Amerikaner nicht die geringste Ahnung haben, auf welchem der sieben Kontinente Liberia liegt; dass im amerikanischen Fern­sehen nur selten Bilder von ihrem Krieg gezeigt werden.

Sie können nicht begreifen, wa­rum die Amerikaner ihnen weder Truppen schicken noch eine In­te­rimsregierung fordern, noch anbieten, Friedensgespräche zu moderieren. Sie verstehen nicht, dass sie in Amerika keine Lobby und selbst unter schwarzen Kongressabgeordneten nur wenige Fürsprecher haben. Sie wis­­sen nicht, warum die Amerikaner sie warten lassen.

Westafrika ist das Land, in das Gott kam, um warten zu lernen. Und dann noch ein wenig länger zu warten. Der nigerianische Frachter River Oli hat acht Tage lang darauf gewartet, den Hafen von Freetown in Sierra Leone zu verlassen und 500 Ecowas-Soldaten sowie 200 Tonnen Reis und Konserven nach Monrovia zu bringen.

Er hat gewartet, bis der Reis da war. Bis man genügend Benzin für das Schiff aufgetrieben hatte. Bis klar war, wer das Benzin bezahlt. Bis entschieden war, mit welchen Schleppriemen der Reis geladen werden konnte. Bis der Mann gefunden worden war, der den Schlüssel zu dem Raum hatte, in dem die Schleppriemen aufbewahrt wurden. Bis entschieden war, ob man die Tür zu diesem Raum aufbrechen sollte, weil der Mann, der den Schlüssel hatte, ihn nicht finden konnte. Bis die Tür gewaltsam geöffnet wurde. Bis der Reis geladen war. Bis die Soldaten an Bord gingen. Bis man zu dem Schluss gelangte, dass nun alles ge­­regelt sei. Bis die Prostituierten und die zwei Polizis­tin­nen aus Freetown in den frühen Morgenstunden mit demonstrativem Widerstreben ihre breiten schwarzen Gür­tel zurechtzurrten und das Schiff verließen.

Zwölf Tage nach dem ursprünglich vorgesehenen Termin, achteinhalb Tage nach dem unter emphatischen Schwüren neu festgelegten Termin, vier Tage nachdem ausnahmslos jeder in Westafrika den Glauben daran aufgegeben hat, dass das Schiff je in See stechen wird, legt die River Oli ab. Die ghanaischen Truppen an Bord singen Abool-ya, abool-ya – »ein Laib Brot, ein Laib Brot« –, während die Nacht anbricht und der Mond aufgeht und vor dem Bug Schwärme fliegender Fische wie Schrotkugeln durch die Luft sausen. Der Frachter braucht zwei Tage, bis er in Freeport, Mon­rovias Hafen, vor Anker geht.

Rauch steigt aus den zerstörten Gebäuden der Stadt auf. In unregelmäßigen Abständen dringt Geschützfeuer ans Ohr der ghanaischen Soldaten an Bord, und mit einem einzigen Geräusch, so als fiele ein Amboss zu Boden, werden 500 israelische G-3-Gewehre entsichert und geladen. Die Männer gehen über die Landungsbrücke, um ihren friedenserhaltenden Pflichten nachzukommen, als der Nachmittagsregen einsetzt. Die Ecowas-Truppen be­­ginnen, die 200 Tonnen Hilfsgüter zu entladen.

Es ist nicht annähernd genug. Niemand weiß genau, wie viele Menschen hier noch leben, doch gut 40 000 sind es mit Sicherheit. Zehn Wochen lang war Mon­rovia von allen Versorgungsquellen abgeschnitten. Benzin kostet zwischen zwölf und 20 US-Dollar pro Gal­lone, man kann aber auch zwei Gallonen für acht Tassen Reis kaufen.

Die in Internierungslagern festgehaltenen Krahn – Stammesgenossen des toten Präsidenten – haben seit einem Monat nichts zu essen gehabt, und wenn einer es irgendwie schafft, sich eine Schüssel Brühe zu kochen, passiert es leicht, dass ein anderer sie ihm aus verzweifelter Missgunst aus der Hand schlägt. Frauen mit komatösen Babys an den leeren Brüsten laufen die Straßen auf und ab.

»Man möchte heulen, wenn man das sieht«, gesteht ein ghanaischer Militärarzt. »Ich weine auch manchmal«, pflichtet der Pressesprecher der Ecowas ihm bei. Die Wan­gen mit Ritualnarben übersät, wirken sie nicht wie Männer, die nah am Wasser gebaut haben. Ein Monrovier, der gerade Prince Johnson hat vorbeifahren sehen, sagt: »Ich war am nächsten dran. Er hat auf uns gezeigt. Wir konnten nicht hören, was er gesagt hat, aber wir wissen, dass er uns liebt und mit uns leidet.«

Der Mann hat selber seit acht Tagen nichts gegessen. »Wenn ich durch die Gegend laufe, rutschen mir manchmal einfach die Augen weg und ich falle hin.« Die Menschen essen so gut wie alles, und immer mal wieder bleibt jemand am Straßenrand stehen und erbricht etwas, das als Nahrung nicht taugte. Leere Dosen des Insektenvertilgungsmittels Pestall liegen überall im Rinnstein verstreut, aufgehackt, der Inhalt von ausgehungerten Monroviern verschlungen, die das Etikett nicht lesen konnten.

Grauen und Aberglauben

Die Rebellen starteten ihren Feldzug letzten Dezember. Sie kehrten aus dem Exil zurück und kamen über die Elfenbeinküste in den Norden und Osten des Landes. Johnson setzte sich schon kurze Zeit später von Taylor ab – nach Johnsons Meinung aufgrund von Streitigkeiten über die Strategie, Taylor zufolge, weil er Johnson für den Mord an seinen eigenen Leuten zum Tode verurteilt hatte.

Wie dem auch sei – der Guerillakrieg schlängelte sich gen Süden durch den anhaltenden Regen Richtung Hauptstadt voran, und eigentlich erwartete niemand, dass er je dort ankommen würde.

Doch dann, Ende Juni, war er plötzlich da. Taylors Leute besetzten den Flughafen. Johnson näherte sich von der anderen Seite, eroberte die Stadt und isolierte den Präsidenten in seinem Amtssitz sowie einen Großteil der Armee in einem ein paar Häuserblocks umfassenden Gebiet in der Innenstadt.

Die Ecowas-Truppen trafen ein. Die Menschen begannen, die Stadt zu verlassen. Die meisten britischen Diplomaten reisten ab. Alle französischen Diplomaten reisten ab. Ein halbes Dutzend Mitarbeiter des Auswärtigen Dienstes der USA blieben, und die Marines errichteten Maschinengewehrstellungen rund um die Botschaft. In Monrovia ging der Strom aus. Es floss kein Wasser mehr. Die Lebensmittel wurden knapp. Der Bürgerkrieg entfaltete eine entsetzliche Bruta­lität.

Als Taylors Männer in Hochzeitskleidern und Dusch­­hauben, die sie auf ihren Raubzügen erbeutet hatten, mit der Armee um den Amtssitz des Präsidenten kämpften, brei­tete sich eine Atmosphäre aberwitzigen Grau­ens aus. Die Duschhauben waren gut gegen den Regen. Wozu die Hochzeitskleider gut sein sollten, wusste niemand.

In­des­sen rasten Johnsons Soldaten, mit roten Basken­mützen und Haarteilen vom Perückenmacher auf dem Kopf, in fri­sierten Mercedes-Benz durch die Straßen und ballerten wild in der Gegend herum. Die Leute, die in der Nähe der britischen Botschaft wohnten, trauten sich schließlich, John­sons Rebellen zu bitten, dass sie die Lei­chen ihrer Opfer nicht an ihrem Strand abladen möchten – wegen des Gestanks. Klar, sagten die Rebellen, geht in Ordnung. In Liberia gibt es kilometerlange Strände.

Selbst die Libanesen verließen die Stadt, in der Hoff­nung, nach Beirut zurückkehren zu können. Die meisten Flüchtlinge machten sich zu Fuß auf den Weg, zuerst durch Taylors Territorium und dann nach Westen auf Li­berias bestem Highway Richtung Sierra Leone, ein Men­schenstrom wie nach einem Footballspiel.

Normaler­weise ist das ein fünftägiger Marsch über einigermaßen ebenes Gebiet, doch er wurde beträchtlich erschwert, weil Taylors Rebellen – blutjunge Burschen der Stämme Gio und Mano, die meisten zwischen elf und 15 Jahre alt und mit AK-47- und M-16-Gewehren bewaffnet – sich vorgenommen hatten, alle Krahn oder Mandingo sowie sämtliche Angehörigen der Armee des Präsidenten und der ehemaligen Regierung in der Menge ausfindig zu machen und zu töten.

Nach etwa 60 Kilometern, in der Stadt Klay, trafen die Flüchtlinge auf die erste Kon­troll­stelle. »Riecht ihr das?« fragten die Rebellen. Sie meinten den Ver­we­sungs­gestank, der die Luft verpes­tete. »Hoffentlich wisst ihr, wer ihr seid«, sagten sie, »sonst landet ihr da, wo der Gestank herkommt.« Wer nicht den richtigen Dialekt sprach, wer zu wohlhabend oder wohlgenährt aussah, wur­de erschossen, geköpft oder mit Benzin übergossen und angezündet. Manche wurden im Mano River ertränkt.

Die Flüchtlinge, die in Sierra Leone ankamen, erzählten von Kon­troll­stellen mit Zäu­nen rundhe­rum, auf deren Pfählen abgetrennte Köpfe aufgespießt ge­wesen seien. Voodoo-Gerüchte gingen um: Taylors Männer seien unverwundbar, Kugeln könnten ­ihnen nichts anhaben, sie schössen aufeinander, um sich gegenseitig am Rü­cken zu kratzen; Taylors Männer schlachteten vor jedem Kampf eine junge Frau, tränken ihr Blut und äßen ihr Herz; Taylors Männer könnten sich in Schlangen und Ele­fan­ten verwandeln, ihre Arme und Beine nach Belieben ausdehnen oder verkürzen, sich unsichtbar machen.

Das Ver­­ge­waltigen, Plündern und Mor­den war hier nicht schrecklicher als in anderen Bür­ger­­kriegen; insofern jedoch die Gräuel dieses Krieges durch die Fäden des Aber­glaubens mit gewissen dunklen Mäch­ten verknüpft waren, bekamen sie etwas Uner­gründ­liches und umso Grau­si­ge­res.

Ein Konzert

Und nun, am 28. September, sind Reis und Konserven, Verstärkung und Munition, ein paar Tonnen Speiseöl und dazu eine Hand voll europäischer Journalisten auf der Ri­ver Oli eingetroffen.

Die Neuankömmlinge können kaum fassen, was sie in Monrovia sehen. Nichts funktioniert, es gibt nichts zu kaufen, alles verfällt, die Stadt ist am Ende. Ecowas-Soldaten feuern unablässig in die Luft über den Köpfen der Menschen und drängen die Menge vom Hafen zurück. Überall Graffiti: »Doe – mother pussy«, »Escape / we want rice«, »God save Liberia« und »Peace no war«. Keine Mau­er ohne Einschusslöcher. Die großen Fensterscheiben der Autohändler geben gezackte Blicke in leere Ausstellungsräume frei, wo jetzt Familien hausen, die Schutz vor dem Regen suchen.

Erstaunlicher­weise sehen die Hunde gesund aus. Niemand mag sie essen, lassen die Journalisten sich erzählen, weil sie sich von menschlichen Leichen ernähren. Die Menschen hungern, während die Hunde fett werden.

Die sicherste Gegend zum Übernachten ist Mamba Point, das Viertel, in dem sich die Botschaften befinden. Zwar schleichen Johnsons Männer dort herum, und das Geräusch von Gewehrfeuer ist beinahe allgegenwärtig, doch ein paar quadratische Häuserblocks scheinen eine fetischartige diplomatische Immunität zu besitzen, und die Menschen fühlen sich hier sicher. Dennoch, das Geratter der Maschinengewehre rückt häufig allzu nah, auch wenn sich nicht genau bestimmen lässt, woher es kommt.

Der Strand am Fuß des Hü­gels stinkt nach Tod, obwohl die meisten Leichen inzwischen unter Sand und Treibgut begraben sind. Hier und dort wird vielleicht sogar ein bisschen gehandelt, mit den Botschaften der Briten und Amerikaner, die von Hubschraubern mit Lebensmitteln versorgt werden. Hunger haben in Mamba Point alle, doch verhungert ist bislang keiner.

Feldmarschall Prince Johnson – Brigadegeneral, Am­tierender Präsident Liberias und Oberbefehlshaber der Independent National Patriotic Front of Liberia (INPFL) – führt, als Teil seines Revolutionskampfes, eine planlose, bisweilen rätselhafte Medienkampagne.

Ende August emp­­fing er zehn nigerianische Journalisten, die von der Ecowas ins Land gebracht worden waren, und führte sie in seinem Sektor Monrovias herum. Während der 45minütigen Rundfahrt schoss er in ein Auto hinein, in dem ein europäisches Ehepaar saß – der Mann war sofort tot, die schwer verletzte Frau wurde von Johnsons Soldaten weggeschleppt und ist seitdem nie wieder aufgetaucht –, und richtete einen Plünderer hin, indem er ihm mit seiner Handfeuerwaffe mitten ins Gesicht schoss.

Heu­­te, am 29. September, geht Prince Johnson sogar so weit, zwei amerikanische Journalisten und ein französisches Fern­seh­team, Passagiere der River Oli, in sein Haupt­­quar­tier einzuladen.

Der Stützpunkt des Feldmarschalls liegt in einem Wohn­viertel außerhalb der Hauptstadt auf dem Gelände der Bong Iron Ore Mining Company. Johnsons Zentrale ist ein Gebäude aus nacktem Be­ton, von Schießkommandos, herumlungernden Soldaten, Zelten und Fahrzeugen umgeben. Es ist nicht größer als ein durchschnittliches amerikanisches Einfamilienhaus und scheint auf einem Meer aus Fahrzeugen zu treiben, vorwiegend Mercedes-Limousinen mit geöffneter Motor­hau­be. Irgendwo jenseits der Felder ertönt Maschinengewehrgeknatter – es heißt, die INPFL exekutiere mehrere Liberianer pro Tag –, und aus dem Gebäude dringt das gedämpfte Wummern verstärkter Musik.

Drinnen gibt Feldmarschall Johnson eins seiner Mor­gen­konzerte. Das große Wohnzimmer ist voller Soldaten mit roten Baskenmützen, und in der Mitte steht Prince John­son, spielt Gitarre und singt »Rivers of Babylon«, eine Creole-Reggae-Version des 137. Psalms. Andere Par­tisa­nen begleiten ihn auf Congas, zwei E-Gitarren und ­einer mickrigen elektrischen Orgel. Sie sind gut. Sie könnten sich ohne weiteres in einem Nachtclub in Los Angeles ihre Brötchen verdienen. And there we wept, singt John­son, when we remembered Zion.

Die Männer um ihn herum klatschen, wiegen sich im Takt und singen fünfstimmig mit; Sturmgewehre schwingen hin und her, Gas­masken schlagen gegen Oberschenkel, und Patronen­­gürtel blitzen unter den grellen Lichtern von Johnsons Video-Crew, die die­ses Ereignis filmt. Johnson hört nicht auf zu singen, als die Gäste hereinkommen, aber er lächelt und nickt em­pha­tisch, lässt die Füße über den Boden gleiten wie Michael Jackson und stützt sich wie Elvis Presley auf ein Knie; die Soldaten grölen.

Er ist ziemlich groß, schätzungsweise eins fünfundachtzig, und gut gebaut; seine Tenor­­stimme ist unerwartet hoch, und er singt im Shouting-Blues-Stil. Seine Mütze ist nicht rot, sondern tarn­farben wie sein Dril­lich­anzug. Auf der Brust trägt er ein Ver­dienst­kreuz, ei­nen ver­silberten Skorpion sowie ein grün-goldenes Sheriff­ab­zeichen. Mit ein paar schnellen Tanz­schritten reißt er die Soldaten jetzt erneut zu Begeis­te­rungs­stürmen hin. An den Füßen trägt er gelbe Krokodillederstiefeletten.

Das Camp wird von Generatoren versorgt, und der Raum verfügt über eine Klimaanlage, aber dennoch ist es hier drinnen heiß von all den Körpern und schwül vom Schweiß der feiernden jugendlichen Krieger.

Der Feld­mar­schall trocknet sich das Gesicht, während er zu seinem gewaltigen Holzschreibtisch hinübergeht und sich setzt. Die Musikinstrumente werden zur Seite geschoben, um Platz für Klappstühle zu machen. Die beiden amerikanischen Journalisten setzen sich auf die andere Seite des Schreibtischs, Johnson gegenüber. Er hat einen großen Hammer neben sich liegen, von dem er jedoch keinen Gebrauch macht; stattdessen fordert ein junger Presse­spre­cher sie auf anzufangen, und ein Interview beginnt, oder eine Pressekonferenz, die sich im Grunde, zunächst jedenfalls, nicht von anderen ihrer Art unterscheidet.

Johnson scheint die Antworten auf eine Reihe von Fragen bezüglich seiner Ansichten, Ziele und Vorgehensweisen vorbereitet zu haben. Bei Fragen, auf die er keine Antwort parat hat, gibt er sich vorsichtig: »Das bleibt abzuwarten« oder »Dazu können wir uns nicht äußern«. Wenn er ausführlich antwortet, verfällt er oft ins Kreolische. Hart­näckige Nachfragen scheinen ihm anzudeuten, dass er nicht verstanden wurde, woraufhin er zu immer wortreicheren und grundsätzlicheren Erklärungen ausholt – er erläutert den Unterschied zwischen Krieg und Waffen­still­stand, zwischen Soldaten und Politikern, zwischen einem amtierenden und einem gewählten Präsidenten.

Unifor­mierte Frauen gehen mit weißen Drahtkörben durch die Reihen und bieten 0,3l-Dosen Budweiser an; Prince John­son drückt seine Zigarre in einem der zahlreichen Aschen­becher aus, die für Zigaretten der Marke Kool werben. Hinter ihm hängen zwei Bilder an der Wand – eins zeigt Jesus, das andere, eine kleine Federzeichnung, stellt Yassir Arafat dar. In der Mitte des Raumes steht ein großer, gut einen halben Meter hoher Holzlöwe, der mit ein paar pinkfarbenen Kaugummiklumpen verziert ist.

Johnson rea­giert beleidigt, als seine Gäste ihn fragen, woher das Bier kommt. »Glauben Sie vielleicht, wir hätten es gestohlen? Würden Sie George Bush fragen, woher die Sachen in ­seinem Büro kommen?« Er schenkt den beiden amerikanischen Journalisten je ein T-Shirt mit der Aufschrift »We want Prince for peace« und »Glory be to god on high peace unto Liberia« und »Bravo INPFL«.

»Charles Taylor hat meine Mutter und meinen Vater umgebracht. Und meinen Onkel, meine Schwes­ter und meine Tochter«, sagt er, »aber darum geht es nicht. Es geht darum, dass wir unterschiedliche Stra­te­gien ­haben. Taylor will einen Nervenkrieg führen. Ich will mit richtigen Kugeln kämpfen.« Er bezeichnet Taylor als »unreif«. Er sagt, niemand sei auf Rache aus, doch die Krahn, der Volksstamm des Präsidenten, müssten »verfolgt werden«. Er meint den verstorbenen Präsiden­ten.

»Seine ­Leiche lag fast einen Monat lang in der Island Clinic. Gerade gestern haben wir ihn beerdigt, weil der Ge­stank nicht mehr auszuhalten war.« Seine Leiche, sagt er, sei »ir­gend­wo« begraben. Er betont, dass Doe den Ver­let­zungen erlegen sei, die ihm während seiner Gefangen­schaft zugefügt wurden. Sie hätten Doe nicht hingerichtet, sondern lediglich verhört. Was er Doe gefragt habe? John­sons Blick ­verrät leichte Unsicherheit. »Ich habe ihn nach dem Geld des liberianischen Volkes gefragt. Ich habe ihn so vieles gefragt. Ja«, sagt er, »ich habe ihm die Ohren abgeschnitten und ihm befohlen, sie zu essen.«

Ein Video

Die Journalisten glauben, sie hätten ihn nicht richtig verstanden. Ihm befohlen, was zu essen?

»Ich habe eine Videoaufnahme von dem Verhör«, sagt Johnson plötzlich. »Möchten Sie sie sehen?«

Sofort werden die Klappstühle auf die Veranda hinausgetragen, wo der Fernseher steht. Johnsons Soldaten drängen sich vor dem Gerät. Die Budweiser-Körbe gehen wieder herum. Ein paar Minuten lang schaut auch Johnson sich das Video an, übers ganze Gesicht strahlend, doch dann wird er zu einer Besprechung mit Varney, seinem Stell­vertreter auf Lebenszeit, hineingerufen.

Auf dem Bildschirm sieht man Samuel K. Doe, den Prä­si­denten von Liberia, in Unterhose und mit offenem Hemd am Boden sitzen, die Hände auf dem Rücken gefesselt, die blutenden Beine vor sich ausgestreckt und an den Knö­cheln fest zusammengebunden. Man hat ihm offenbar ins rechte Knie geschossen, und sein linker Oberschenkel ist, vermutlich von einer zweiten Kugel, böse aufgeschlitzt.

Doe, ein fettleibiger Mann mit Halbglatze, blinzelt ­pa­nisch ins Licht und in die Kamera, und der Schweiß rinnt ihm in die Augen, während er verzweifelt und um jeden Preis zu lächeln versucht: Ja, es herrscht Krieg, ein schreckliches Missverständnis, ja, wir haben uns gegenseitig umgebracht, aber lasst uns doch jetzt Wege finden, freundlicher miteinander umzugehen.

Er dreht den Kopf hin und her, während seine Kidnapper ihm ihre Gewehr­läufe in die Rippen stoßen. »Ich möchte etwas sagen«, wiederholt er ein ums andere Mal. »Sag es! Sag es!« schreit die Menge um ihn herum, doch sie lassen ihn gar nicht zu Wort kommen, was immer es ist, das er loswerden möchte.

»Was hast du mit dem Geld des liberianischen Volkes gemacht?« Jetzt hat sich Prince Johnson eingeschaltet, und die Kamera fährt zurück und zeigt ihn, an seinem Schreib­tisch sitzend. Anstelle von Orden prangen zwei Granaten an seiner Brust. Vor ihm steht ein Budweiser. »Wo ist es? Wo ist das Geld?« schreien seine Gefolgsleute.

»Wenn Sie meine Fesseln lockern«, sagt der Präsident, blinzelnd und lächelnd, »kann ich mit Ihnen reden. Ich habe Schmerzen, große Schmerzen«, sagt er.

Sie schütten ihm Bier über den Kopf und reißen ihm das Hemd vom Leib. »Was?«, fragt er immer wieder und versucht, die Fragen zu verstehen, schaut forschend in die Gesichter um ihn herum, blickt nach oben, nach unten und von einer Seite zur anderen. »Was? Entschuldigen Sie. Was?«

»Ich werde dich töten«, erklärt Johnson laut. Die jungen Soldaten reißen den Präsidenten herum, damit er seinem Kidnapper direkt ins Gesicht sieht. »Ich möchte ­etwas sagen«, wiederholt Doe. »Wenn zwei Männer gegeneinander kämpfen, und einer gewinnt –« Die Menge brüllt ihn nieder. »Ich bitte Sie – schauen Sie mich doch an«, sagt er. »Bitte lockern Sie meine Fesseln. Sie können die Füße zusammengebunden lassen, aber meine Hände schwellen an.« Er beugt sich vor und bläst auf seine Beine. Anscheinend versucht er, seine Wunden zu kühlen.

»Kann sein, dass ich dich verschone, aber verarsch’ mich nicht«, sagt Johnson. Johnson trägt eine goldene Arm­band­uhr, an der er herumspielt, während er den Präsi­den­ten am Boden böse anstarrt. Eine Frau wischt Johnson mit einem Tuch über das Gesicht. Hinter ihm sieht man die Bilder von Jesus und Arafat. Das Verhör findet in demselben Raum statt, in dem eben die Pressekonferenz abgehalten wurde und die Reggae-Rhythmen erklangen. Der Präsi­dent sitzt dort, wo jetzt Gitarren und Verstärker stehen. Auf dem Bildschirm macht sich der Feldmarschall ein weiteres Bud auf.

»Wir sind alle eins«, sagt Doe und schaut ihn flehentlich an. Ein junger Kerl hält ihm eine Pistole an den Kopf. Durcheinander wirbelnde Stimmen werfen ihm Mord und Korruption vor. »Lassen Sie mich etwas sagen«, keucht er, »was auch immer geschehen ist, war von Gott bestimmt.«

»Schneid dem Mann die Ohren ab«, befiehlt Johnson, und die beiden Jungen halten den schreienden Präsidenten fest, während ein anderer ihm mit einem Taschenmesser das linke Ohr absägt und es ihm in den Schoß wirft. »Jawohl, schneid ihm das Ohr ab!«, sagt Johnson. Doe zappelt und windet sich wie wild und brüllt, als sie sich daranmachen, ihm auch das andere Ohr abzuschneiden. Der Junge mit der Pistole stellt seinen Fuß auf den gebeugten Nacken des Präsidenten.

»I love Jesus«

Plötzlich geht der Strom aus. Die Generatoren verstummen, der Bildschirm wird schwarz. Man hört die Insekten auf dem Gelände herumschwirren, bis das Brum­men der Generatoren die Geräusche des Dschungels wieder übertönt. Doch der Fernseher funktioniert trotzdem nicht.

Ein Mann tritt vor und fummelt an der Steckdose und am Kabel herum. Er ruft einen zweiten Mann zu sich, der die Prozedur wiederholt, doch vergebens. Sie gehen ­ge­meinsam weg und kommen kurz darauf mit einem anderen Kabel zurück. Auch das nützt nichts. Der Fernseher funktioniert nicht. Es muss an der Steckdose liegen. Der Fahrer der Journalisten drängt zum Aufbruch. »Sie dürfen nicht bis nach ein Uhr hier bleiben«, erklärt er ihnen. »Bis dahin sind alle betrunken, und dann kann alles Mögliche passieren.« Doch die Journalisten wollen noch bleiben.

Inzwischen hat irgendjemand ein längeres Kabel aufgetrieben. Verschiedene Lampen und Geräte müssen weggerückt werden, damit man an eine andere Steckdose herankommt. 20 Minuten später leuchtet der Fernsehbildschirm wieder auf.

Just in diesem Moment erscheint ein Adjutant, schaltet das Gerät aus und reißt die Kassette aus dem Video­appa­rat. »Kommen Sie mit nach draußen«, befiehlt er.

Draußen spricht Feldmarschall Johnson zu 50 oder 60 Soldaten. »Wenn ihr vergewaltigt«, schreit er, »bring ich euch um!« Yes Sir! »Wenn ihr plündert, bring ich euch um!« Yes Sir! »Wenn ihr stehlt, bring ich euch um! Wenn ihr mich verarscht, krieg ich euch am Arsch!« Yes Sir! Yes Sir! Yes Sir! Er läuft zu überraschender rhetorischer Form auf, ermahnt sie durchzuhalten, ihre Aufgabe an­zunehmen: »Ihr müsst bereit sein, euer Leben aufs Spiel zu setzen, damit euer Name in die Geschichte eingeht …«

»Auf Wiedersehen«, sagt er plötzlich und geht lächelnd fort. Drinnen ertönt wieder Musik. Oh, how I love Jesus, singen die Rebellen, because he first loved me …

Was, fragen die Journalisten Johnson – sie sprechen ­direkt in sein Ohr, während er weiter Gitarre spielt und singt –, was ist mit dem Video? Können wir nicht noch den Rest des Bandes sehen?

Eine zweite Pressekonferenz beginnt. Johnson sitzt hin­ter demselben Schreibtisch, an dem er auch Präsident Doe verhört hat. »Wir glauben, dass dies nicht der richtige Zeit­punkt ist, den Rest des Bands zu zeigen«, verkündet er.

Sein Pressesprecher fragt: »Was werden Sie in Ihren Artikeln über den Feldmarschall schreiben?« Vorsichtig ver­suchen die Journalisten anzudeuten, dass es einen schlech­ten Eindruck mache, wenn er ihnen den Rest des Bandes nicht zeige, was immer sie über ihn schrieben. Es gebe Gerüchte, denen zufolge dem Präsidenten nicht nur die Ohren fehlten.

»Wir haben ihm weder die Genitalien abgeschnitten«, sagt Johnson mit Nachdruck, »noch haben wir ihn erschossen. Ich habe ihn im Badezimmer festgebunden. Er hat die ganze Nacht gejammert und mich dazu zu bringen versucht, ihm die Fesseln zu lockern. Aber er ist ein ausgebildeter Offizier. Auf so einen Trick falle ich bei ihm nicht herein. Er ist morgens um halb vier gestorben.«

Tatsächlich hat Max Hill, Arzt an der Island Clinic, wo man den Leichnam hingebracht hatte, inzwischen ­be­stätigt, dass Doe entweder seiner Beinver­letzung oder seiner Angst erlegen ist. Er wurde nicht hingerichtet. »Auf dem Band ist nichts weiter zu sehen«, ­behauptet der Presse­sprecher. »Wir haben ihm nur noch ein paar Fragen ge­stellt.«

Trotzdem, sagen die Journalisten – trotzdem. Wir sollten das ganze Band zu sehen bekommen.

Johnson steht auf und verlässt den Raum. »Wir schauen uns den Rest an«, verkündet der Pressesprecher.

Die Aufnahme überspringt einige Stunden und setzt an einem späteren Punkt des Verhörs wieder ein. Doe sitzt jetzt, ohne Ohren, auf die gleiche Weise gefesselt wie zuvor und abgesehen von einem nassen Lappen zwischen den Beinen nackt, irgendwo draußen an einem Fluss. Er verliert häufig das Bewusstsein; dann sackt ihm der Kopf auf die blutige Brust.

»Wenn Sie meine Fesseln lockern«, sagt er immer wieder, »wenn Sie meine Fesseln lockern.« »Wir können dir die Ellbogen losbinden«, erklärt ihm ein Adjutant, »aber deine Hände bleiben gefesselt.« In die­ser Phase des Verhörs scheint Prince Johnson nicht ­an­wesend zu sein.

»Was hast du mit dem Geld des liberianischen Volkes gemacht?« fragen sie ihn ein ums andere Mal. »Ich habe Schmerzen, ich habe Schmerzen«, erwidert der Präsident. »Was hast du mit der Wirtschaft angestellt?« fragen sie ihn.

»Bitte, wischen Sie mir das Gesicht ab«, sagt er, und ein junger Rebell fährt ihm mit einem Lappen über Gesicht und Hals. Der Adjutant ist außer sich. »Warum hast du das gemacht?« fragt er. »Ich weiß nicht«, sagt der Junge. »Warum hast du ihm das Gesicht abgewischt?« fragt der Adjutant. »Tut mir Leid«, sagt der Junge. Es fällt ihm offenbar schwer, sich die Morde und die Niedertracht ins Ge­­dächtnis zu rufen, welche den Präsidenten in diesen Ab­­­grund gestürzt haben. »Was wischst du dem Kerl das Ge­sicht ab?« fährt der Adjutant ihn an.

Doch auch er scheint zu spüren, dass diese Person, ohne Nachfolger, ohne Amt und ohne Kleider, allen Stolzes und sogar eini­ger Körperteile beraubt, auf ein namenloses und unschuldiges Wesen re­duziert ist, das nichts mehr mit dem Ver­brecher Samu­el K. Doe gemein hat. Der Präsident verliert erneut das Be­wusstsein, und sie schütten ihm einen Eimer Wasser über den Kopf; er wacht auf und sagt: »Wenn Sie mich verschonen, erzähle ich Ihnen alles …«

Inzwischen ist es Nachmittag geworden. Ein Mittag­essen wird serviert, in Plastikschüsseln, die die Journa­lis­ten mit einer gewissen vorsichtigen Skepsis in den Händen halten.

Konkurrenz der Kriege

An diesem Abend fällt kein Regen. Die trockene Jahres­zeit naht. Bald ist kein Wasser mehr da, und dann wird die Situation wirklich hoffnungslos. Es kann sich nur noch um Tage handeln, bis die Ecowas gegen Charles Taylor ins Feld zieht. Prince Johnsons Schicksal lässt sich schwer vorhersagen, doch wenn in Liberia wieder die Vernunft Einzug hält, dürfte er kaum eine Chance haben zu überleben, es sei denn, er entscheidet sich zur Flucht.

Es ist jetzt dunkel geworden, und das Geratter des Gewehrfeuers lässt nicht nach. Ein kleiner Waffenstill­stand ist zu Ende gegangen. Die Journalisten verschanzen sich in einer gut ausgestatteten Wohnung in Mamba Point, in der es allerdings, wie fast überall, weder Strom noch Was­ser gibt, ein Luxusapartment, in dem vorher Angehörige der amerikanischen Botschaft gewohnt haben.

Auf ihren Kurzwellenempfängern hören die Journalisten Nachrich­ten aus aller Welt: Auf der ganzen Erde werden Kriege geführt oder gerade vorbereitet oder zu beenden versucht – Bürgerkriege, Stammeskriege, ja im Mittleren Osten schließ­lich sogar der Dritte Weltkrieg; Grenzstreitigkeiten, gewalttätige Interessenkonflikte, Vergeltungs­schläge, Glaubenskriege; Auseinandersetzungen, die fotografiert, katalogisiert, überwacht, ans Licht gebracht ­werden müssen, doch die Zeitungen haben nicht genügend Platz, um über sie alle, oder auch nur die Hälfte ­davon, zu berichten.

Liberia bekommt nicht viel Sendezeit. Dennoch hocken die Journalisten vor ihren kleinen Geräten und hoffen auf Nachrichten von dem afrikanischen Krieg vor ihrer Haustür, als kämen diese Nachrichten aus irgendeiner fernen Region und hätten eine andere Quelle als sie selbst. Die Frage ist: Wo liegt Liberia? Kümmert es da draußen irgendwen?

Redaktionell gekürzter ­Vorabdruck der Reportage »Bürgerkrieg in der Hölle« mit freundlicher Geneh­migung des Verlags aus: ­Denis Johnson: In der Hölle. Blicke in den Abgrund der Welt. Mit einem Vorwort von Georg M. Oswald. Aus dem Amerikanischen von Bettina Abarbanell. Tropen, Berlin 2006. 184 S.,

18,80 Euro. Das Buch ­erscheint dieser Tage.