Spinoza komplett

Was bleibt. Ein Spaziergang durch die Überreste des jüdischen Den Haag. von michael wuliger

Den Haags berühmtester jüdischer Bürger ist in christlicher Erde bestattet. Im Garten der Nieuwe Kerk im Stadtzentrum ruht, wie der einsame Grabstein auf lateinisch vermerkt, »Benedictus de Spinoza«. Benedictus, zu deutsch Segen, heißt auf Hebräisch Baruch. Doch als einen der ihren betrachteten die niederländischen Juden den Philosophen nicht mehr, seit er wegen angeblich gotteslästerlicher Schriften aus der Jüdischen Gemeinde Amsterdams ausgestoßen worden war. Spinoza musste seine Vaterstadt verlassen. Asyl fand er 1669 in Den Haag. Dort, in der Paviljoensgracht 74, entstand sein religionsphilosophisches Hauptwerk »Ethica«. Eine Statue und eine Tafel erinnern an den 1677 verstorbenen berühmten Bewohner. Auch ein Restaurant Spinoza gibt es. Auf der Speisekarte stehen Döner Kebab und Lahmacun.

Das einstige jüdische Viertel von Den Haag ist heute muslimisch und asiatisch geprägt. Viele Straßenschilder sind zweisprachig, niederländisch und chinesisch. Juden wohnen hier so gut wie keine mehr.

Zu Spinozas Zeiten war die Haager Gemeinde noch die größte des Landes. Anders als in Amsterdam, wo sich vor allem portugiesische Sephardim niedergelassen hatten, dominierten hier Aschkenasim. Verstärkung bekamen sie im 19. Jahrhundert, als Juden aus Russland und Polen vor der zaristischen Verfolgung flohen. Rund um die Wagenstraat in der Innenstadt entstand ein regelrechtes Schtetl mit koscheren Läden, kleinen Handwerksbetrieben, Jeschiwot und kleinen Bethäusern, »jiddisch Stibl« genannt.

Der düstere, verwinkelte Kiez wurde in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts saniert, viele der alten Häuser abgerissen und durch moderne Sozialbauten ersetzt. Wer sich eine Vorstellung davon machen will, wie es vorher ausgesehen hat, muss die Straße gegen­über Spinozas Grab überqueren. Im Atrium des großen postmodernen Stadthauses steht unter Glas eine Miniaturnachbildung des einstigen Den Haager Judenviertels. Übrig geblieben ist davon nur wenig. Zwei steinerne Lämmer am Erker des Hauses Wagenstraat 75 deuten darauf hin, dass hier früher eine koschere Metzgerei war. In der Sint Jacobsstraat macht eine kleine Tafel auf eine einstige Mazzenfabrik aufmerksam.

Nur die 1844 erbaute neoklassizistische Große Synagoge steht noch. Man erkennt sie schon von weitem an den beiden Minaretten. Das ehemals jüdische Gotteshaus ist heute die Mescidi Aksa-Moschee. Das Bad nebenan wurde zu einer türkischen Teestube umfunktioniert, das rituelle Becken mit Beton zugeschüttet.

Das war 1974. Die Haager Jüdische Gemeinde brauchte für ihre 2 000 Mitglieder die Synagoge nicht mehr. Vor der Shoah hatten am niederländischen Regierungssitz 17 000 Juden gelebt. 14 000 von ihnen wurden von den Deutschen in den Jahren 1942/43 deportiert. Wenige konnten rechtzeitig fliehen oder untertauchen. Als erste niederländische Stadt war Den Haag »judenrein«. Am Rabbi Maarsenplein soll demnächst ein Monument in Form eines großen Davidsterns die Ermordeten ehren. Einstweilen erinnert in der Bezemstraat eine kleine Plakette an die Jüngsten unter ihnen: »Rachel weint um ihre Kinder.«

Deportiert und ermordet wurden auch die meisten Bewohner der »Van Ostadewoningen« rund um die Jacob-Cats-Straat. Ende des 19. Jahrhunderts hatte die »Joodse Woningbouwvereniging« nicht weit vom alten Judenviertel eine neue Siedlung errichtet. Kleine einstöckige Häuschen mit Gemüsegärten und – ein Luxus damals – fließendem Wasser sowie Kanalisation. Im alten Judenviertel hatte es das nicht gegeben; Cholera-Epiemien waren die Folge gewesen. Die Siedlung wurde im Stil eines holländischen Dorfs gebaut. Die einzige Konzession an das Judentum waren in die Giebel eingemauerte Davidsterne. Die mehrheitlich muslimischen Bewohner heute scheinen sie nicht zu stören.

Das jüdische Leben hat sich mittlerweile in den Westen der Stadt verlagert, wo Königin, Regierung und Parlament ihren Sitz haben und elegante Bürgerhäuser sowie teure Geschäfte die Straßen prägen. Dort, in der Princessegracht, steht die liberale Synagoge. 1726 erbaut, war das lichtdurchflutete Barockgebäude ursprünglich das Bethaus der portugiesischen Gemeinde. Aus Amsterdam waren sephardische Bankiersfamilien wie die de Souzas Mitte des 17. Jahrhunderts an den Regierungssitz gezogen, als Kreditgeber für das königliche Haus Oranien. Ihre Religion öffentlich zelebrieren durften sie anfangs nicht – ein Schicksal, das die Juden im reformierten Holland mit den Katholiken teilten. An einem Prachtboulevard, nach dessen Vorbild Unter den Linden in Berlin entstand (das jedenfalls behaupten die Haager), steht ein kleines Gebäude mit der Hausnummer 60. Es war die versteckte Synagoge der Sephardim, bevor in Holland Religionsfreiheit gewährt wurde. Die Straße heißt übrigens »Lange Voorhout«. Wer dabei an das Stückchen Haut denkt, das bei der Beschneidung entfernt wird, liegt falsch. Das niederländische »Hout« heißt übersetzt nicht Haut, sondern Holz.

Nicht nur Sephardim, auch zu Wohlstand gekommene Aschkenasim lebten im wohlhabenden Westen. Im Warenhaus Gerzon mit seinem Jugendstildekor kauften sie ein. Das jüdische Konfektionsgeschäft La Bonneterie war, wie ein Wappen über dem Eingang stolz vermeldet, sogar königlicher Hoflieferant. Das Kaufhaus bedient noch heute die bessere Haager Gesellschaft. Verschwunden ist dagegen die Privatbank Edersteim am Plein. Das Gebäude beherbergt heute ein hochpreisiges Restaurant. Die private Synagoge der Familie im Hof des Gründerzeitgebäudes dient als Speisesaal für Festgesellschaften. Das Essen dort soll ausgezeichnet sein, heißt es in Restaurantführern.

Michael Wuliger lebt in Berlin und ist Feuilleton-Redakteur der Jüdischen Allgemeinen. Führungen durch das jüdische Den Haag bietet www.citymondial.nl an.