Ich seh’ dich

Wachtürme im öffentlichen Raum: zur Architektur des Argwohns. Von Roger Behrens

Die Ordnung der Sinne in der Moderne sei wesentlich durch die Vorherrschaft des Visuellen, des Auges, des Optischen bestimmt – dieser Befund ist maßgeblich für die verschiedenen Theorien, die im Zuge der Postmoderne-Debatte seit Mitte der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts über Ästhetik und Wahrnehmung, aber auch über Architektur und soziale Struktur entwickelt wurden.

Schon im Wort Theorie, griechisch-wörtlich von der »Schau des Göttlichen« abgeleitet, steckt das Visuelle; die Moderne als Zeitalter der Aufklärung hat nicht nur in diesem Epochenbegriff die Metapher des Sichtbaren und Sichtbarmachens in ihren Mittelpunkt gesetzt. Das Auge setzt sich gegenüber dem Ohr durch, Literatur und Bildende Kunst sind nach der klassischen Hierarchie der Künste der Musik übergeordnet; beiden Fernsinnen sind wiederum die Nahsinne Geruch, Tastsinn, Geschmack untergeordnet.

Soziologen haben das unterschiedlich be­gründet, stets jedoch auf die mit der Zivi­lisation größer werdende Distanz zwischen den Menschen, ihren Körpern und den Sinnesorganen verwiesen. Norbert Elias oder Richard Sennett argumentieren, mit der Zivilisation seien auch die Eindrücke für Nahsinne am Verschwinden, während Ohr und vor allem Auge mit immer mehr lebenswich­tigen Sinnesdaten, Reizen, Informationen überhäuft werden. Der stinkende Dreck, das beißende Feuer oder das stechende Gas seien aus dem Haus und von der Straße verschwunden; stattdessen erhelle das elektrische Licht die Nacht, die Leuchtreklame wechsele sich mit dem Verkehrslärm ab, zuhause erfüllten Radio und Fernsehen den Raum.

Das gesellschaftliche Leben erscheint nunmehr als Bühne, ein beobachtbarer Raum von Repräsentationen, schlimmstenfalls als Kriegsschauplatz, bestenfalls als Theater (griech.: Schaustätte). Solches Beobachten des Sichtbaren, das sich auf das Sichtbare des Beobachtbaren konzentriert, war zweifelsohne für die Soziologie und ihre Methodik bestimmend. Beobachten, beschreiben, erkennen hieß hierbei der Dreischritt, den etwa Georg Simmel oder Siegfried Kracauer zur kritischen Gesell­schafts­wissenschaft ausgebaut haben. Die Erkenntnisse über Großstadt und Alltags­leben basierten auf der genauen Beschreibung dessen, was es zu sehen gab.

Fortgesetzt hat das die Chicagoer Schule um Robert E. Park mit dem Theorem vom teilnehmenden Beobachter als beobachteter Teilnehmer; das Forschungsobjekt waren hier Jugendbanden im italienischen Einwandererbezirk. Gleichzeitig kommt die Ethnologie zu ähnlichen Schlüssen, zu denken ist an Claude Lévi-Strauss’ Amazonas-Berichte.

Dass um diese Zeit im Übrigen die Gesellschaftstheorie schon längst mit der Fotografie und dem Film arbeitet, kommt nicht von ungefähr. Schon hier wird deutlich, wie sehr in der Moderne nicht nur die Kontrolle mit dem Visuellen zusammenhängt, sondern sich auch der Blick auf das Fremde, Unverstandene richtet; auf das, was sich augenscheinlich der Kontrolle entzieht – zum Beispiel als kriminell eingestufte Jugendliche.

Das war vom Prinzip nicht neu, sondern eben dem Wissenschaftsideal der Aufklärung verpflichtet. Schon mit Auguste Comtes Positivismus sollte die Gesellschaftstheorie auch als soziale Kontrolle funktionieren, und zwar in der Kontrolle des Sichtbaren mit der Kontrolle durch das Sichtbare oder das Sichtbarmachen. Problematisch war auch immer schon, inwiefern die kontrollierende Instanz sichtbar sein muss (damit Beobachtung als Drohung funktioniert) oder in der Kontrolle unsichtbar bleiben muss (damit die Drohung der Möglichkeit permanenter Beobachtung nicht gefährdet wird).

Dieser Komplex von Beobachten, der Vorherrschaft des Optischen und der Ordnung des Sichtbaren, welcher als »skopisches Regime der Moderne« bezeichnet wird oder – von Ulrich Sonnemann – gar als »Ocular tyrannis«, hat in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts Michel Foucault, nach­dem er sich schon mit der Entstehung des ärztlichen Blicks beschäftigt hatte, zu seiner einflussreichsten Studie bewogen: »Überwachen und Strafen«.

Es geht darin, wie der Untertitel verrät, um die »Geburt des Gefängnisses«, nämlich um die Entwicklung der modernen Straf­systeme als Systeme der Überwachung, beziehungsweise um die soziale Verkettung von Überwachen und Strafen. Im Mittelpunkt steht das architektonische Modell des so genannten Panoptikums des britischen Philosophen und Ökonomen Jeremy Bentham; dieser hatte in den 1790er Jahren für Fabriken, Gefängnisse und andere Anstalten eine Architektur vorgeschlagen, die es erlaubt, von einem zentralen Ort aus alle Arbeiter, Eingesperrten etc. jederzeit und vollständig überwachen zu können, auf alle also einen Zugriff zu haben, der wesentlich von der und durch die Sichtbarkeit definiert ist.

Nach Foucault weitet sich das System des Panoptismus auf alle gesellschaftlichen Bereiche aus; die totale und permanente Überwachung führt zu dem, was Foucault die Disziplinargesellschaft nennt. Disziplin ist indes auch das Resultat der Verkettung von Überwachen und Strafen. Mit seinem Befund richtete Foucault sich gegen die Vor­stellung, das Gefängnis reformieren oder den Strafvollzug humanisieren zu können (Bentham war Reformer, der sein Pa­nop­ti­kum durchaus im Dienste der Menschheit verstand). Foucaults Engagement in der G.I.P., der Gruppe Gefängnisinformation (Groupe d’information sur les prisons) ist bekannt; politisch ging es darum, für die Gefangenen ein öffentliches Mitspracherecht zu erstreiten.

Der soziologische Befund führt allerdings weiter. Die Ausbreitung des Panoptismus auf die ganze Gesellschaft führt zu einer Verschiebung der Disziplin in Selbstdisziplin. Es braucht am Ende keine Architektur der Überwachung mehr, die Subjekte haben sie als Instanz internalisiert, überwachen (und strafen) sich selbst. Die Konsequenzen dieser Diagnose sind bei Gilles Deleuze nach­zulesen, der davon ausgeht, dass diese Selbstdisziplin das Paradigma eines neuen Gesellschaftstyps ist. Deleuze spricht hier von der Kontrollgesellschaft.

Begriffe wie Überwachen, Disziplin, Kontrolle etc. gelten heute als verbindliche Sig­naturen für die Beschreibung der Ordnung sozialer Räume. Das sind weiterhin die Gefängnisse, Fabriken des alten Typs, auch das Lager, die Ghettos, die Slums, die Favelas, die Vorstädte und die nachts verlassenen Zentren der Metropolen.

Bemerkenswert ist jedoch nicht nur, dass wahrscheinlich kaum einer derjenigen, die diese Orte mit dem Vokabular von Disziplin und Kontrolle beschreiben, jemals solche Orte tatsächlich gesehen, geschweige denn erlebt hat. In den Theorien des urbanen Raums, die im Übrigen in ihren an der Disziplinar-/Kontrollgesellschaft orientierten Varianten eher dem Kunstdiskurs entspringen als der kritischen Gesellschaftstheorie, wird dies nun mit genau dem Diskurs verkettet, den man in seiner populistischen Version gerade bekämpfen möchte: dem der Sicherheit.

Dass sich Architekturen der Beobachtung und der Kontrolle allerdings mit dem Bedürf­nis nach Sicherheit legitimieren wollen und dass die der Sicherheit entgegenstehende Gefahr weitgehend ein soziales Phantasma, wenn nicht kollektive Paranoia ist, kann keineswegs als a) besonderes Kennzeichen der skopischen Ordnung der Moderne genommen werden, sondern findet sich als skopische Ordnung in allen Gesellschaftsformationen und kann keineswegs b) mit einer Fortsetzung oder Fortentwicklung des Panoptikums erklärt werden. Zunächst, weil diese Architektur schon damals peripher war. Vor allem aber, weil sie als Architekturform bis heute nicht signifikant für die soziale Raumordnung der Moderne ist, insbesondere nicht des urbanen Raums.

Wachturmarchitekturen, wie sie bei »Sus­picious Setting« gezeigt werden, sind dafür die prädestinierten Beispiele. Sie machen sichtbar, dass Überwachung, Kontrolle und Disziplin gesellschaftlich eben nicht total funktionieren, gerade dort nicht, wo sich das total auftretende Sicherheitsbedürfnis nicht generalisieren lässt. Die Eindeutigkeit von Wachtürmen, die etwa eine Burg oder ein Gefängnis säumen, ist klar: Entscheidend ist, wer hier auf welcher Seite der Mauer in welcher Funktion und Posi­tion steht.

Dem entspricht für den städtischen Raum in der frühen Moderne, ja schon in der Renaissance, genau der Blick, der die Stadt, die Häuser, die Straßen etc. in der Zentralperspektive gliedert. Dies gilt bis Bentham, bis zum Paris von Hauss­mann, bis zu Lúcio Costas »Plano Piloto« für Brasilia und für jedes Monumentalprojekt städtischer Raum­ordnung. Aber das gilt nicht für den unkontrolliert gewachsenen Stadtraum, der sich von vornherein dem disziplinierenden Blick entzieht, weil hier Leben überhaupt nicht zur Schau gestellt wird, kein Theater ist, keine Bühne. Hier geht es auch nicht um Sicherheit; die Ideen von Ordnung und Fort­schritt sind ausgesetzt.

Inwiefern solche Architekturen dem Panoptismus als System zuwiderlaufen, ja fast als seine Karikatur genommen wer­den können, ist auf den Fotografien sichtbar. Sie zeigen, zu welch zynischer Gewalt die moderne Gesellschaft fähig ist, wo ihre Mecha­nismen von Überwachen und Stra­fen ausfallen. Hier geht es nur noch um den Verdacht, um Argwohn, um Miss­trau-en.