Demokratie? Taugt nicht!

In der pauschalen Kritik an der Großen Koalition kommt ein antidemokratisches Ressentiment zum Ausdruck. von stefan wirner

Es scheint so, als falle derzeit alles auf die Politiker zurück, was sie in den vergangenen Jahren den Arbeitslosen angetan haben. Endlich müssen sie sich mal rechtfertigen, mag sich manch einer denken, endlich stehen die mal unter Druck. Brau­chen sie zu lange für eine Reform, zack! fliegen sie raus aus der Regierung. Es ergeht ihnen wie einem Arbeitslosen, der eine Sperr­zeit verpasst bekommt, weil er ein Formular zu spät abgegeben hat. Diskussionen und Kom­promisse? Papperlapapp, dafür ist keine Zeit. Hat Angela Merkel nicht gesagt, Deutschland sei ein »Sanierungsfall«? Eben! Und jetzt wird saniert, und zwar von oben. Der Wähler verweigert sich und ist so lange stinkbeleidigt bis, ja, bis was?

Etwas Nichtwiedergutzumachendes haben die Damen und Herren der Großen Koalition verbrochen: Sie haben das liebe Volk zutiefst enttäuscht. »Schwarz-Rot zerlegt sich bei der Gesundheitsreform selbst, die Bürger wenden sich genervt ab«, erläutert Focus online. »Sind die noch ganz bei Trost? fragt sich der Bürger« – meint Die Zeit. Was die Bürger denken, wissen nämlich die Zeitschriften am besten und schrei­ben es deshalb vorsichtshalber tagtäglich auf, damit es die Bürger auch nicht vergessen.

Weil die Gesundheitsreform nicht so schnell wie gedacht und auf die Art, wie vom Bundesverband der Deutschen Industrie gewünscht, durchgesetzt werden kann, gelten die Regierenden als unfähig; Streit, Ranküne und Misstrauen bestimmen das Bild. Regiert wird am Abgrund. Der Abgrund ist tief, und es ist nicht die erste Regierung, die hinunterblickt. Von allen Seiten werden ultimative Forderungen an die SPD und die CDU/CSU gestellt. »Merkel muss endlich regieren«, ordnet Otto Graf Lambsdorff (FDP) an, die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, Renate Künast, geht auf die Barrikaden: »Die Große Koalition muss so schnell wie möglich weg. Sie ist das Problem und löst kein einziges.« Besonders kritisch und um das Wohl der Menschen besorgt sind die Ministerpräsidenten, die sich vorsorglich schon mal für die Wahlen in ihrem Bun­desland profilieren.

Auch der Vorstandsvorsitzende von Porsche, Wendelin Wiedeking, hat sich in die Untergangsdebatte ein­geschaltet. Statt das Gesundheitssystem auf »ökonomische Effizienz zu trimmen«, gebe es wieder nur »Geschacher«, moniert er. Er warte auf »die große Reform, den Befreiungsschlag, der die ständige Flickschusterei beendet«, schreibt er auf Faz-Net. Als er Porsche übernommen habe, habe er »einen radikalen Schnitt« gemacht, er habe nicht »den kleinsten gemeinsamen Nenner aller Interessen« gesucht. Kompromisse sind »Flickschusterei«, was wir brauchen, sind schnelle Lösungen für eine schnelle Gesellschaft. Demnächst wird Deutschland wie eine Fa­brik geleitet. Mit ähn­lichen Vorwürfen und Forderungen hat man Gerhard Schröder einst zur Verkündung der Agenda 2010 gedrängt. Mal sehen, wie Merkel reagiert.

War es vor einigen Jahren noch die »verstaubte Verfassung« (Spiegel), die das Land zu lähmen schien, so macht inzwischen offenbar das gesamte demokratische System schlapp und kann nicht mehr mit den Anforderungen der Zeit mithalten. »Die Gesundheitsreform droht, das politische System der Bundesrepublik zu überfordern«, analysiert Die Zeit. »Die Überforderung mit dem Großversuch Gesundheitsreform gibt dem politischen System einen selbstzerstörerischen, autoputschistischen Drive, es treibt gewissermaßen von selbst auf Stürze zu.« Verübt das Bundeskabinett schon bald ein Selbstmordattentat?

Etwas Demagogisches kommt in den Lamentos über die Große Koali­tion zum Vorschein. Denn egal, ob einem ihre Entscheidungen gefallen oder nicht, dass sie nichts tue, lässt sich ihr kaum vorwerfen. Zur Erinnerung: Sie kam den Wünschen der Wirtschaft nach und verschlechterte die Situation von Empfängern des Arbeitslosengeldes II, sie hat das Elterngeld eingeführt, das vor allem wohlhabenden Familien zugute kommt, sie hat die Föderalismusreform verabschiedet und schickt die Bundeswehr in den Nahen Osten. Und das alles, obwohl sie kaum ein Jahr regiert.

Zum ersten Mal seit dem Jahr 2001 wird Deutschland in diesem Jahr die Defizitkrite­rien von Maastricht erfüllen. Als die rot-grü­ne Regierung diese damals erstmals verletzte, machte sich Weltuntergangsstimmung breit. Müsste man nun nicht die Wiederauf­er­steh­ung feiern? Aber vielleicht braucht man diese Art von dauerhafter Krisenstimmung, um weiter kräftig die Löhne zu drücken und die Leute bei schlechter Laune zu halten. Wer sich in unsicheren Verhältnissen wähnt, nimmt am Ende jeden Drecksjob an und arbeitet freiwillig länger, wenn es die Betriebs­leitung wünscht.

Der Effekt ist aber auch, dass sich bei vielen inzwischen eine antipolitische Stimmung eingestellt hat, eine Abscheu vor »denen da oben«. Kritisiert werden das Personal oder die Verwaltung und nicht die Verhältnisse, die aus der modernisierten Form des Kapita­lismus resultieren. Die Stimmungsmache gegen die Regierung, die nicht regiere, gegen den Föderalismus, der alles blockiere, oder gegen die Gewerkschaften, die nur auf ihre »Besitzstände« achteten, verstärkt das Ressentiment bei jenen, die von der Demokratie sowieso wenig halten. Theodor W. Adorno wies Ende der fünfziger Jahre darauf hin, dass sich in Deutschland Demokratie nicht derart eingebürgert habe, »dass sie die Menschen wirklich als ihre eigene Sache erfahren, sich selbst als Subjekte der politischen Prozesse wissen«. Demokratie werde »als ein System unter anderen empfunden«, nicht aber »als identisch mit dem Volk selber, als Ausdruck seiner Mündigkeit«.

In der Studie »Der autoritäre Charakter« untersuchte er zusammen mit anderen Soziologen antidemokratische Ressentiments in der Bevölkerung, damals in der US-amerikanischen. Die Studie kam u.a. zu dem Schluss: »Die Ressentiments, die aus der Entfremdung von der politischen Sphäre erwachsen, wen­den sich gegen die Vertreter dieser Sphä­re. Der Bürokrat ist der Repräsentant einer unverständlichen Politik, einer entpersönlichten Welt.« Bei den Wahlen in Berlin warb die FDP mit dem Slogan: »Unbequem für Bürokraten« und »Schluss mit der Abzocke«. Das wirkte nur deshalb nicht rundum, weil die abgebildeten Typen selbst aussahen wie Bürokraten.

Manche ahnen, was nun droht. »Wir haben in den letzten Wochen eine Diskussion erlebt«, sagte Hubertus Heil, der Generalsekretär der SPD, »die nicht nur der Großen Koalition in der öffentlichen Wahrnehmung geschadet hat, sondern langsam auch dem Ansehen unserer demokratischen Institutionen schadet.« Von der allgemeinen Panikmache und der Desavouierung des Poli­tischen an sich profitiert die NPD. Denn in einem System, in dem von der CSU bis zur Linkspartei alle auf irgendeine Art mitwurschteln, kann sie sich als einzige Oppositionspartei darstellen. Mit ihrer Propaganda verstärkt sie die antidemokratische Strömung.

Und die Regierenden, völlig auf den Hund gekommen, versuchen, aus der Existenz der Rechtsextremen noch ihre eigene Existenzberechtigung abzuleiten. Abtrünnigen Wählern drohen sie: Wenn ihr uns nicht wählt, kommen die! So wird die NPD für manche der einzige Grund, noch zur Wahl zu gehen. Schließlich will man wenigstens die Nazis verhindern, wenn man sich vom Rest schon nichts mehr erwartet. Am Ende rettet die NPD die Demokratie und vielleicht auch noch die Große Koalition. Darauf verlassen sollte man sich allerdings nicht.