»Es herrscht ein kalter Bürgerkrieg«

György Konrád

Der diesjährige Nationalfeiertag am 23. Oktober sollte zur größten Feierlichkeit in Ungarn seit dem Zusammenbruch des Realsozialismus werden und endete im größten Desaster der vergangenen 16 Jahre. Die konser­vative Opposition boykottierte den Festakt im Parlament zum Gedenken an den 50. Jahrestag des Aufstands und hielt eine eigene Kundgebung ab. Am Abend lieferten sich in Budapest rund 2 000 zumeist rechtsextremistische Demonstranten Straßenschlachten mit der Polizei.

Was sagen diese Ereignisse über das Ungarn der Gegenwart? György Konrád ist Schriftsteller und Essayist. Er war Präsident des ­internationalen Pen-Clubs und Präsident der Berliner Akademie der Wissenschaften. Mit ihm sprach Thorsten Herdickerhoff.

Was denken Sie über die Ereignisse am Nationalfeiertag?

Es gab einen guten Teil: Viele ausländische Staats- und Ministerpräsidenten haben Ungarn gelobt, und das kommt nicht oft vor. Was mir nicht gefällt, ist die politische Instrumentalisierung der Feierlichkeiten. Damit kommen wir zum unangenehmen Teil, der Strategie der Oppositionspartei Fidesz unter der Führung von Viktor Orbán. Diese Strategie ist gefährlich.

Der Fidesz hat die parlamentarische Gedenk­feier boykottiert und eine eigene Kund­ge­bung veranstaltet. Orbán behauptete vor mehreren zehntausend Menschen, die Regierung sei »unrechtmäßig« und man müsse das Land »auf den demokratischen Weg zurückbringen«. Hat dies die Stimmung aufgeheizt?

Auf jeden Fall. Ich wage zu sagen, dass der Fidesz eine Putschstrategie verfolgt. Er führt einen kalten Bürgerkrieg, der manchmal ziemlich heiß wird. Das ist kein demokra­tisches und rechtsstaatliches Vorgehen.

Ist die Regierung aus Sozialisten und Liberalen ganz und gar unschuldig an der Krise?

Nein, unschuldig ist niemand. Aber es gibt einen Rahmen, den die Verfassung bestimmt, und diesen Rahmen muss man akzeptieren. Wer dies nicht tut, arbeitet an einer Weimarisierung.

Die Regierung hat im April falsche Wahlversprechen gemacht und die desolate Haushaltslage verheimlicht. Nach ihrer Wiederwahl hat sie ein Sparprogramm aufgelegt, das Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány bereits vor der Wahl ins Auge gefasst hatte, wie den Medien zugespielte Tonaufnahmen beweisen. Kann er diese Sparmaßnahmen noch glaubhaft vermitteln und verwirklichen?

Das ist keine leichte Frage, und ich bin kein Ökonom. Man muss bedenken, dass die sozialistische Staatswirtschaft noch nachwirkt. Früher haben die Menschen alles von oben bekommen, sie wurden wie Kinder behandelt. Und heute wollen sie nicht für sich selber sorgen. Die Leute mögen einfach keine Steuern zahlen. Dieses Erbe der kommunistischen Zeit lastet schwer auf den Ländern Osteuropas, die heute generell eine hohe Staatsquote haben.

Hinzu kommen die Machtspielereien mancher Politiker, die den Menschen falsche Hoffnungen machen. Bei einer Fern­sehdiskussion zum Beispiel fragte Orbán den Ministerpräsidenten Gyurcsány, ob dieser garantieren könne, dass die Gaspreise stabil blieben. Dieser antwortete, er habe bis dahin nicht gewusst, dass er die Weltmarktpreise kontrollieren könne. Orbán aber denkt – nein, er denkt nicht, er sagt –, dass ein ungarischer Ministerpräsident dies tun könne.

Bei den Demonstrationen am Nationalfeiertag stand nicht das Sparprogramm im Vordergrund. Stattdessen wurde die regierende Sozialistische Partei MSZP als direkte Nachfolgerin der ehemaligen kommunistischen Partei angefeindet. Wie stark sind die Verbindungen zwischen diesen beiden Parteien?

Wir haben kein West-Ungarn, wie es ein West-Deutschland gibt. Das heißt, in Ungarn konnten keine gewachsenen demokratischen Parteien die Macht übernehmen und es könnte auch kein Personal aus dem Westen die Führungsposi­tionen besetzen. Die führenden Funktionäre haben selbst an der Wende vom Kommunismus zur Demokratie gearbeitet. Es gab keine antikommunistische, bürgerlich-konservative Bewegung, die das allein hätte bewerkstelligen können, sondern nur wenige bürgerliche Figuren.

Ist eine erneute Abrechnung mit der Vergangenheit nötig, wie viele Gegner der Regierung immer wieder fordern?

Die meisten alten Kommunisten sind schon im Grab, und in der sozialistischen MSZP sind allenfalls noch Leute tätig, die vormals drittrangige Funk­tionäre waren. Und jetzt sollen diese ehemaligen Funktionäre, die nichts gemacht haben, verurteilt werden? Ich selbst bin übrigens nicht Mitglied der MSZP, und die kommunistische Partei war auch nicht meine Lieblingspartei.

Was ist mit den ehemaligen Mitar­beitern der Staatssicherheit?

Es ist nicht nötig, jemanden vor Gericht zu stellen, vor allem weil ein sanfter Wandel ohne Blutvergießen stattgefunden hat. Alles geschah in Absprache, auf Wunsch der Gesellschaft. Eine spätere Bestrafung war nicht der Hintergedanke der damaligen Verhandlungsführer, und die Gesetze ermöglichen dies auch nicht. Außerdem gab es in den letzten 20 Jahren unter den Kommunisten keinen großen Terror. Ich war der letzte, der verhaftet wurde – für eine Woche.

Man hört in Ungarn immer wieder die Kritik, dass das Land zu frühzeitig der EU beigetreten sei. Gibt es durch den Beitritt zu viele Verlierer?

Es gibt diese Meinung, und es gibt andere Meinungen. Ich denke, es hilft Ungarn, in der EU zu sein. Es ist gut, wenn die Regierung unter Kontrolle ist, und zwar nicht nur von innen, sondern auch von außen.

Wo sehen Sie einen Ausweg aus der vergifteten Atmosphäre?

Das ganze ist ein Spiel, und den Ausgang eines Spiels kann man nicht vorhersehen. Die Möglichkeiten, die der 50. Jahrestag des Aufstands geöffnet hat, sind ausgenutzt. Orbán hat sich nicht zum Sturm entschlossen, jetzt muss er wohl auf parlamentarische Mittel warten. Das heißt, die Wahl 2010 bringt die Entscheidung, und die drei Jahre bis dahin werden weniger aufgeregt ablaufen als bisher.

Einen Ausweg könnten führende Mitglieder des Fidesz finden, die als pragmatische Politiker einsehen, dass Orbáns Strategie gescheitert ist, und ihn stürzen.

Wer wird 2010 die besseren Chancen haben?

Die Sozialisten könnten sich in eine vor­teilhafte Lage bringen, wenn sie den Haushalt in den Griff bekommen, der Fidesz, wenn er seine Strategie ändert. Wenn die Sozialisten allerdings feige sind, dann opfern sie Gyurcsány. Das wäre derselbe Fehler, den die bürgerlichen Parteien 1948/49 gemacht haben. Sie schnitten immer mehr Scheibchen von sich ab, aber wurden niemals akzeptabel für die kommunistische Partei.

Was würden Sie anders machen als die Politiker?

Ich würde einen neuen runden Tisch schaffen, an dem sich Politiker und Nicht­politiker regelmäßig treffen und wo der intellektuelle Diskurs gepflegt würde. Phrasendrescher und Demagogen wären ausgeschlossen. Wissenschaftler und Schriftsteller verletzen sich in der Regel nicht und wollen sich auch nicht gegenseitig herabwürdigen.

Werden die Krawalle weitergehen?

Wahrscheinlich nicht. Man hat jetzt gesehen, dass sie nichts bringen. Und gerade im Vergleich mit dem vermeintlichen Vorbild 1956 wird klar: Damals genügte ein Nachmittag, um die Diktatur zu stürzen. Demokratien aber sind flexibler und damit auch zäher. Zumal die Mehrheit der Ungarn die Randalierer von heute ablehnt.