Mutter Teresa vom Rhein

Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Jürgen Rüttgers setzte sich auf dem Parteitag der CDU mit seinem Vorschlag zur Änderung von Hartz IV durch. von david zorn

Wurde man noch vor einem Jahr zu Jürgen Rüttgers (CDU), dem Ministerpräsidenten von Nord­rhein-Westfalen, außerhalb dieses Bundeslandes befragt, so fielen einem am ehesten noch die Kinder ein, die er den Indern vorzog. Inzwischen redet er von einer anderen Liebe, die er für sich entdeckt haben will: von der Arbeiterklasse. Kurz nachdem er im vorigen Jahr die Landtagswahl gewonnen hatte, verkündete er: »Der Vorsitzende der Arbeiterpartei in NRW bin ich.«

So ein Job als Führer und Anwalt der Werktätigen und »kleinen Leute« bringt selbstverständlich gewisse Verpflichtungen mit sich. Sich als wirtschaftsliberaler Terminator des Sozialstaats zu gebärden, kommt in dieser Rolle nicht so gut an. Besser ist es, etwas sinnfrei zu fabulieren und zu sagen, was einem stattdessen wichtig ist; nämlich, »dass die Leute sich gerecht behandelt fühlen. Das ist eine Frage der Gerechtigkeit. Soziale Gerechtigkeit. Das heißt, soziale Gerechtigkeit.« Dieses ungelenke Gestotter ist vielleicht der noch neuen Rolle geschuldet, Ministerpräsident in einer ehemaligen Hochburg der SPD zu sein, die ja, wie gemeinhin bekannt, für den human touch im Kapitalismus steht. »Die CDU ist keine kapitalistische Partei. Das war sie nicht, ist sie nicht und darf sie nicht werden!« setzte Rüttgers, schon routinierter, noch eins drauf.

Als in der vergangenen Woche der Parteitag der CDU in Dresden stattfand, wurde Rüttgers für diese Allüren bestraft und bekam bei seiner Wiederwahl ins Parteipräsidium 20 Prozent weniger Stimmen als beim letzten Mal, was seinem neu geschaffenen Image als Ketzer aber nicht abträglich war. Jedenfalls erhielt er dadurch aufs neue große Aufmerksamkeit in den Medien. Auf einmal wurde der früher eher als graue Technokrat bekannte Christdemokrat zum Rebellen stilisiert. Die Bild-Zeitung nennt ihn einen »Arbeiterführer« und »Volkstribun« und fragt: »Wird Rüttgers der Lafontaine der CDU?« Anlass für die auf ihn konzentrierte Berichterstattung war ein Antrag seines nordrhein-westfälischen Landesverbandes auf dem Parteitag, der manchem Delegierten offenbar als der Beginn des Sozialismus vorgekommen war.

So sozialistisch kann er dann aber nicht gewesen sein, da ihm die Partei schließlich doch zugestimmt hat. Nicht nur deswegen verwundert einen die ganze Aufregung. Denn in dem Antrag selbst steht auch nichts wirklich Überraschendes. »Wer Menschen etwas zumutet, muss ihnen auch Perspektiven bieten – Hartz IV generell überholen«, lautet der erste Satz, der sich ausdrücklich nicht gegen die Zumutungen richtet, die Hartz IV für viele mit sich bringt, und auch nur eine Variation des sattsam bekannten »Forderns und Förderns« der SPD darstellt.

Aber es geht ja um Gerechtigkeit. Und ungerecht ist es, wenn jemand, der jahrzehntelang Sozialbeiträge gezahlt hat, am Ende genauso lange Arbeitslosengeld I bezieht wie einer, der nur für kurze Zeit gearbeitet und eingezahlt hat. Das führe dazu, »dass ganze Lebensentwürfe und Arbeits­biographien entwertet werden«, heißt es in der Begründung. Deswegen soll die Dauer der Auszahlung des Arbeitslosengeldes I an die Dauer der versicherungpflichtigen Beschäftigungszeit gekoppelt werden, damit Leistung sich wieder lohnt.

Wenn es dann jemandem tatsächlich gelingt, 40 Jahre lang einzuzahlen, dann soll er sich sage und schreibe zwei Jahre lang einen Lenz mit dem Arbeitslosengeld I machen dürfen. Ähnlich phantastisch und revolutionär mutet auch der Vorschlag zur Erhöhung des Freibetrags zur Alterssicherung bei Empfängern des Arbeitslosengeldes II an. Bislang betrug er 250 Euro pro Lebensjahr. »Das produziert systematisch Altersarmut, die verhindert werden muss«, steht im Antrag.

Der Freibetrag soll nun auf 700 Euro erhöht werden, bei einer Höchst­gren­ze von 45 000 Euro. Ein 60jähriger, der in den Genuss der Stütze käme, dürfte dann 42 000 Euro für seine Altersversorgung behalten, ohne dass diese mit dem Arbeitslosengeld verrechnet würde. Hangelt er sich dann noch über die nächsten fünf Jahre, dann könnte er sich anschließend monatlich üppige 350 Euro auszahlen, vorausgesetzt, er hat nicht vor, älter als 75 zu werden. Und wenn es nicht reichen sollte, dann können ja seine Kinder für ihn einstehen, wie es derselbe Antrag vorsieht.

Von solcher Art sind also die Vorschläge, die den damaligen Initiator der »Heuschrecken«-Kampagne, den Bundesminister für Arbeit und Soziales, Franz Müntefering (SPD), dazu bewegen, Rüttgers »blanken Populismus« vorzuwerfen und sogar »Kumpanei mit der linken Wahlalternative Wasg«, wie die FAZ berichtete. Das Schrille manch einer Reaktion aus der SPD auf Rüttgers ist zunächst kaum zu verstehen, da dieser Parteitagsbeschluss der CDU, genauso wie der andere zur Einschränkung des Kündigungsschutzes, in der Großen Koalition kaum durchgesetzt werden kann. Warum also diese panischen, nervösen Reaktionen?

Der Mechanismus der parlamentarischen Demokratie sieht die Rolle eines Dissidenten durchaus vor. Wenn alle Themen entweder schon von anderen Politikern und Parteien besetzt sind oder von diesen in einer Weise bearbeitet werden, die Unmut in der Bevölkerung erzeugt, wird ein Platz frei für jemanden, der ein ausgefallenes Thema aufgreift oder aber ein anderes neu interpretiert und dabei die Stimme der Bevölkerung mimt. Schon steht der angebliche Dissident im Mittelpunkt einer x-beliebigen demokratischen Debatte. Das jeweilige Thema ist relativ egal, darf aber den Kapitalismus selbst nicht infrage stellen und hat obendrein seine Konjunktur, je nach Stimmung der Bürger.

Unverkennbar gibt es unter diesen derzeit ein Unbehagen, was die gesamte »Reformpolitik« anbelangt, und dieses kommt der SPD gar nicht zugute. Schließlich war sie es, die mit den Hartz-Reformen begonnen hat. Und ihr Image als Partei der sozialen Gerechtigkeit ist, gelinde gesagt, angekratzt. Nichts liegt also näher, als sich mit einem sozialen Thema zu profilieren. Im Moment kann man scheinbar alles sagen, was auch nur etwas gerechter klingt als das, was von der SPD kommt, um sich politisch Vorteile zu verschaffen. Und diese kann sich in der politischen Auseinandersetzung nur mühevoll und auf staatstragende Weise zur Wehr setzen.

Jürgen Rüttgers ist es in gewisser Weise gelungen, dieses Problem der SPD für sich zu nutzen. Er konnte dabei kaum verlieren. In Nordrhein-Westfalen kann er sich mit seiner Rhetorik die Stimmen der ehemaligen SPD-Klientel sichern und der Bundes-CDU verschafft er eine laute, angeblich soziale Stimme, die in den nächsten Wahlkämpfen ertönen wird.

Dabei kommt es gar nicht darauf an, ob damit tatsächlich eine andere Politik verbunden ist. In Nordrhein-Westfalen hat Rüttgers’ Regierung soeben fünf Millionen Euro für Schulbücher von Empfängern des Arbeitslosengeldes II und sogar 84 Millionen Euro bei den Kindergärten gestrichen. Auf Bundes­ebene scheint der rheinische Katholik dann wieder an die Arbeitslosen zu denken. Und die Bevölkerung dankt’s ihm. 82 Prozent der Deutschen unterstützen laut Politbarometer seinen Vorschlag zur Änderung von Hartz IV.