Drei Engel für Charlie

Das berühmte französische Satireblatt Charlie Hebdo ist vom Vorwurf der Beleidigung freigesprochen worden. Es durfte die dänischen Mohammed-Karikaturen nachdrucken. von bernhard schmid

Ach ja, die Juristensprache: »In Anbetracht der Tatache, dass Charlie Hebdo eine Satirezeitung ist, die zahl­reiche Karikaturen enthält, dass niemand dazu verpflichtet ist, sie zu kaufen oder zu lesen (…); in Anbetracht der Tatsache, dass eine Karikatur als ein Portrait zu verstehen ist, das nicht dem guten Geschmack verpflich­tet ist, um eine parodistische Funktion zu erfüllen; in Anbetracht der Tatsache, dass die literarische Gattung der Karikatur, obwohl absichtlich provozierend, auf diese Weise zur Freiheit der Meinungsäußerung und zur Übermittlung der Ideen und Meinungen beiträgt …«

Viele Absätze später folgt dann endlich das Urteil: Freispruch für Charlie Hebdo. Die französische Satirezeitung wurde am Donnerstag vergangener Woche im Pariser Justizpalast vom Vorwurf der Volksverhetzung freigesprochen. Angeklagt war das Blatt, weil es durch den Abdruck der dänischen Mohammed-Karikaturen im Februar 2006 die muslimische Bevölkerung beleidigt und zum Hass auf sie aufgerufen haben soll.

Die meisten Beobachter hatten nach den beiden Prozesstagen am 7. und 8. Februar mit diesem Ausgang gerechnet. Die Verhandlung hatte auf den Tag genau ein Jahr nach der Veröffentlichung der berühmten Karikaturen des islami­schen Propheten durch die Satirezeitung stattgefunden. Wie in Frankreich üblich, war das Urteil danach für einige Wochen zur Beratung ausgesetzt worden.

Worum ging es, und worum ging es nicht?

Verschiedene Gruppierungen haben sich aus unterschiedlichen Gründen über das Erscheinen der Karikaturen aufgeregt. Muslimische Extremisten, die die Zeichnungen aus Dänemark zumeist überhaupt nicht gesehen hatten, empörten sich oftmals darüber, dass man den Propheten ihrer Religion überhaupt bildlich darstelle, da die Abbildung des Religionsstifters im Islam verboten sei. Eine Auslegung, die höchst umstritten ist, da es aus der Blütezeit der islamisch geprägten Kulturen in vergangenen Jahrhunderten durchaus eine Vielzahl von Bildern gibt, die angeblich den Propheten zeigen.

Aber um diesen Vorwurf konnte es sinn­voller­weise vor einem französischen Gericht von vorn­herein nicht gehen. Denn falls ein solches Bilderverbot überhaupt gilt, dann höchstens für die Anhänger der islamischen Religion selbst. Nichtmuslime können unmöglich an dieses Verbot gebunden sein, dessen Nichteinhaltung also auch nicht Gegenstand einer Klage vor einem französischen Gericht sein konnte. Ausdrücklich hatte dies auch die als Nebenklä­ge­rin gegen Charlie Hebdo auftretende Pariser Zentralmoschee in ihrer Klageschrift anerkannt.

Auch der Vorwurf der Blasphemie oder der »Beschimpfung eines Bekenntnisses oder einer Religionsgemeinschaft« – wie es das deutsche Strafgesetzbuch formuliert – muss in Frage gestellt werden. Nach französischem Recht ist das unmöglich, denn »Gotteslästerung« oder Blasphemie ist in Frankreich seit langem nicht mehr von Strafe bedroht. Ihre Strafbarkeit wurde bereits während der Französischen Revolution im Jahr 1791 abgeschafft. Allerdings wurde sie in den Jahren der Res­tauration ab 1815 wieder eingeführt, doch kaum 20 Jahre später erneut aus dem Gesetzbuch gestrichen. Seitdem ist es dabei geblieben. Nach geltender Gesetzeslage in Deutschland sähe es hingegen anders aus, da der Paragraf 166 des deutschen Strafgesetzbuchs die »Störung des Religionsfriedens« unter Strafe stellt.

Die Klage der verschiedenen muslimischen Vereinigungen, die gerichtlich gegen die Wochenzeitung vorgingen, stützte sich jedoch auf einen anderen Vorwurf. Beschuldigt wurde Charlie Hebdo, mittels des Abdrucks der Karikaturen »eine Gruppe von Menschen«, nämlich die in Frankreich und anderswo lebenden Muslime, »auf­grund ihrer Zugehörigkeit zu einer Religion« kollektiv stigmatisiert zu haben.

Festgemacht wurde der Vorwurf, die Muslime beleidigt und stigmatisiert zu haben, anhand von drei Zeich­nungen. Nicht alle zwölf Karikaturen waren also Gegenstand der Strafanzeige und der Debatten während des Prozesses.

Die umstrittenste Karikatur aus Jyllands-Posten stammt von dem dänischen Zeichner Kurt Westergaards. Sie zeigt den Propheten Mohammed mit einem Turban in Form einer Bom­be mitsamt brennender Zündschnur. Die zweite beanstandete Zeichnung zeigt Selbstmordattentäter, die ins Paradies wollen, aber vom Propheten mit den Worten abgewiesen werden: »Hört auf, uns ist der Vorrat an Jungfrauen ausgegangen!« Eine Anspie­lung auf die 72 Jungfrauen, die angeblich den Märtyrer im Paradies erwarten sollen.

Außerdem klagten die muslimischen Vereinigungen gegen das Titelblatt der Ausgabe von Charlie Hebdo vom 8. Februar 2006, auf dem eine Zeichnung des zur Redaktion gehörenden Karikaturisten Cabu abgebildet ist. Auf ihr sieht man einen vollbärtigen Mohammed, der sich beide Hände vor die Augen hält und stöhnt: »Es ist hart, von Deppen geliebt zu werden!« Links darüber steht ein Titel, der sinngemäß lautet: »Mohammed wachsen die Fundamentalisten über den Kopf.«

In diesen drei Karikaturen erblickten die klagenden Vereinigungen nicht nur eine negative Darstellung ihres Religionsgründers, sondern sahen darüber hinaus alle muslimischen Gläubigen angegriffen. In den ersten beiden Fällen werde eine direkte Verbindungs­linie zwischen dem Islam und den extremistischen oder terroristischen Strömungen des Islamismus gezogen. Damit werde suggeriert, alle Muslime könnten als potenzielle Terroristen oder Sympathisanten betrachtet werden. Kurz: Es handele sich um ein Pauschalurteil.

Im dritten Fall sei es die Aussage »Es ist hart, von Deppen geliebt zu werden«, die die Menschen muslimischen Glaubens herabwürdige. Allerdings übersah die Anklage im dritten Punkt offenbar die klar auf »die Fundamentalisten« bezogene Überschrift neben der Karikatur. Die Verteidigung versäumte es natürlich auch nicht, ihr dies entgegenzuhalten.

Blasphemievorwurf oder Rassismuskritik?

Im Prinzip lassen sich die Argumentationen leicht auseinanderhalten, theoretisch jedenfalls. Auf der einen Seite geht es um Kritik an den Inhalten oder Angriffe auf die Inhalte eines religiösen Glaubens und um die Versuche der Repräsentanten einer bestimmten Glaubensrichtung, diese abzuwehren. Auf der anderen Seite geht es – unabhängig von den religiösen Inhalten – um die Auswirkungen, die ein Diskurs oder eine bildliche Darstellung auf das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Religionszugehörigkeit haben kann.

In der Debatte wurden diese beiden Ebenen immer wieder verwechselt. Manche Reaktionen basierten offenkundig auf der Vorstellung, dass ein »Angriff auf unsere Religion« abgewehrt werden müsse, notfalls mit den Mitteln totalitären Drucks. In anderen Fällen wurde die Debatte um die Karikaturen offenkundig benutzt, um gegen Migranten zu polemisieren. Da die mus­limische Glaubensrichtung in Europa zurzeit vor allem die Religion von Einwanderern und Migrantenkindern darstellt, ist klar, dass es in der Debatte direkt und indirekt auch um ihren Platz in der europäischen Gesellschaft geht. Hinter der Fassade einer Religionskritik konnte so auch ihre Anwesenheit oder ihr Recht auf einen gleichberechtigten Platz in den »abendländischen« Gesellschaften in Frage gestellt werden. So trat der damalige rechtspopulistische italienische »Reformminister« Robert Calderoli – von der rassistischen Separatistenpartei Lega Nord – im Parlament in Rom mit einem T-Shirt auf, auf dem die umstrittenste der dänischen Karikaturen abgebildet war: die Bombenturban-Zeichnung von Kurt Wester­gaard. Dass es dem italienischen Rechts­radikalen um Aufklärung gegangen wäre, lässt sich wohl nur schwer behaupten, und über die Kriminalgeschichte des Vatikan hätte er sich wohl kaum öffentlich negativ ausgelassen.

Aber auch bei den gegen Charlie Hebdo klagenden Muslimen wurden die beiden Diskussionsebenen – Abwehr von Religionskritik einerseits, die Frage des Zusammenlebens in einer multikonfessionellen Gesellschaft andererseits – durcheinander geworfen.

Einige Kläger wollten die Argumentationen auch gar nicht auseinanderhalten. Ihnen geht es um ideologische Einfluss­nahme. Am deutlichsten wurde dies im Gebaren der in Saudi-Arabien ansässigen »Islamischen Weltliga«, die mit einem Büro in Frankreich vertreten ist, über das sie die Strafanzeige erstattet hatte.

Ihr Anwalt Salah Djemai versuchte bereits am ersten Prozesstag, anlässlich der Befragung des Hautangeklagten Philippe Val, Chefredakteur und presserechtlich Verantwortlicher von Charlie Hebdo, diesen in die Enge zu treiben. Mittels wiederholter Nachfrage versuchte er, ihn zu veranlassen zu erklären, dass er sich da­rüber bewusst sei, dass er »einen der Pfeiler des Islam, den ersten und wichtigsten Pfeiler der Religion«, attackiere. Damit meinte er das mus­limische Glaubensbekenntnis (Schahada), dessen Verse auf dem Bomben-Turban in der umstrittenen Karikatur abgebildet sind.

Daraufhin hatte Philippe Val jedoch leichtes Spiel zu antworten, dass er sich vor einem Gericht der Republik und nicht vor einem Kirchengericht befinde und dass er als Nicht-Anhänger der islamischen Religion nicht an den absoluten Respekt vor einem Gegenstand, »der für die Gläubigen und allein für die Gläubigen heilig ist«, gebunden sei.

Aber auch der Rektor der Pariser Zentralmoschee, Dalil Boubakeur, begab sich auf gefährliches Terrain. Boubakeur ist ein staatstragender Herr, der dem französischen Staats­präsidenten Jacques Chirac sehr verbunden ist. Aber auf einer Pressekonferenz, die er wenige Tage vor Eröffnung des Pariser Prozesses abhielt, zitierte Boubakeur als einen der Unterstützer seiner Position den konservativen Abgeordneten Jean-Marc Roubaud.

Derselbe Parlamentarier hatte jedoch am 28. Februar vergangenen Jahres in der französischen Nationalversammlung einen Gesetzesentwurf vorgelegt, der darauf zielte, eine Strafbarkeit der Blasphemie wieder einzuführen. Allerdings hatte Roubaud bislang keine Chance, damit durchzukommen.

»Charlies« Verteidigung

Gegenüber den Klägerparteien verteidigte sich das strikt antiklerikale Blatt unter Berufung auf seine Grund­positionen. Dem Vorwurf, die Kari­ka­turen würden den Islam mit Extremismus und Terror gleichsetzen, begegnete es, indem es auf sein Titelbild hinwies. Das Titelbild mit dem Propheten, der die Zuneigung von »Deppen« und Fundamentalisten zurückweist, zeige deutlich, »in welchem Lichte unsere Veröffentlichung auszulegen ist«. Also in dem Sinne, dass »die Instrumentalisierung der islamischen Religion durch politische Bewegungen, die in ihrem Namen zu handeln vorgeben«, kritisiert werde – und nicht alle 1,2 Milliarden Mus­lime auf der Welt angeprangert würden. Vor diesem Hintergrund seien auch die kritischen Artikel zu lesen, die in der inkriminierten Ausgabe von Charlie Hebdo den Abdruck der Karikaturen begleiteten. Viele Texte stammten von muslimischen oder migrantischen Autoren.

Das Ergebnis

Am Ausgang des Prozesses bestanden insofern nur geringe Zweifel, als auch die Staatsanwältin als Vertreterin der Anklagebehörde nach dem zweitägigen Prozess einen Freispruch gefordert hatte. Von vornherein hatten die Anhörungen einen Verlauf genommen, der eine Verurteilung höchst unwahrscheinlich erscheinen ließ.

Allerdings gab es hitzige Debatten über die Zeichnung mit dem Bomben­turban, der vorgeworfen wurde, die Gleichsetzung von Islam und Terrorismus zu befördern. Nicht wenige der als Zeugen und Sachverständige Gelade­nen zeigten sich reserviert gegenüber dieser Darstellung. Abdelwahab Meddeb, Fran­zose tunesischer Herkunft, Hochschullehrer in Paris, Philosoph und Islamexperte, der sich zum Atheismus oder zumindest Agnostizismus bekennt, etwa erklärte: »Ja, offen gesagt, diese Karikatur kann für manche beleidigend sein.« Diese Darstellung des islamischen Propheten verweise auf eine uralte Vorstellung in Europa, die die muslimische Religion nur als fanatischen, kriegerischen und grausamen Konkurrenten des Abendlands wahrnehme. Um sich mit dem Islam auseinanderzusetzen, so forderte er, müsse man ihn mindestens kennen und dürfe nicht in Plattheiten verfallen. Er schloss jedoch seine Ausführungen damit, dass er klipp und klar feststellte, er verteidige das Recht von Charlie Hebdo auf den Abdruck der Karikaturen, die der Meinungs­freiheit und der offenen Diskussion dienten. Ähnlich äußerte sich Antoine Sfeir, Franzo­se christlich-libanesischer Herkunft, Journalist und Experte für die arabischen Länder bei vielen Institutionen.

Genau diese Freiheit war während der gewalttätigen Proteste muslimischer Organisationen gegen die dänischen Karikaturen in Jyllands-Posten angetastet worden. Die Proteste mit Todesopfern in den muslimischen Ländern führten weltweit zu einer Diskussion über Religions- und Meinungsfreiheit. So ließ der Chefredakteur der jordanischen Zeitung Shihan drei Cartoons nachdrucken und fragte in seinem Kommentar, was denn verwerflicher sei, die Karikaturen oder die Selbstmordanschläge? Seine Herausgeber verweigerten die Debatte und setzten ihn vor die Tür.

Aber nicht nur im Nahen und Mittleren Osten rollten Köpfe, auch im laizistischen Frankreich konnte der Nachdruck der Karikaturen ernste Konsequenzen haben. Am 1. Februar 2006 druckte die konservative Tageszeitung France Soir die Karikaturen nach, Redaktionsleiter Jacques Lefranc erhielt umgehend von seinem Herausgeber die Kündigung. »Zu Hilfe, Vol­taire, sie sind verrückt geworden«, betitelte die Redaktion daraufhin ihre Geschichte über die erhitzte Debatte und die gewalttätigen Proteste, ohne jedoch auf den Rauswurf ihres Chefs einzugehen.

Auch der Nachdruck der »Turban-Karikatur« in Charlie Hebdo stand in Zusammenhang mit den weltweit eskalierenden Protesten.

In der Urteilsbegründung stellt das Pariser Gericht nun abwägend fest, dass »diese Zeichnung, für sich genommen und isoliert betrachtet, geeignet erscheint, die Gesamtheit der Anhänger dieser Glaubensrichtung« zu beleidigen oder als potenziell gefährlich hinzustellen. Jedoch, so fährt das Pariser Gericht fort, könne die Karikatur »nicht losgelöst vom Kontext ihrer Veröffentlichung betrachtet werden«. Aufgrund des Titelblatts und der begleitenden Artikel könne kein Zweifel mehr daran bestehen, dass – »trotz des schockieren­den, ja beleidigenden Charakters dieser Karikatur« – die Gesamtheit »des Umfelds und der Umstände der Publikation« zu berücksichtigen sei. Und die schlössen »jeden Vorsatz, unmittelbar und grundlos die Gesamtheit der Muslime zu verletzen«, aus.

Die Gesamtheit der französischen Presse begrüßte am Freitag den Freispruch für Charlie Hebdo und sieht das Recht auf Satire dadurch bestärkt. Ob die Freiheit der Meinungs­äuße­rung damit auf Dauer abgesichert ist oder ob ihr neue Gefahren drohen, wird die Zukunft zeigen müssen.

Zum Prozess ist ein Comic erschienen. Joan Sfar hat die Verhandlung verfolgt und daraus ein Buch mit Cartoons gemacht. Joann Sfar: Greffier. Le Procès de Charlie Hebdo. Verlag Shampooing, Paris 2007, 229 Seiten, 19, 90 Euro