Mit der Bombe zum Surfen

Manchen marokkanischen Islamisten sind die etablierten Organisationen zu gemäßigt. Die Polizei verhaftete Jihadisten, die Anschläge vorbereiteten. von bernhard schmid, paris

Erfindungsreichtum kann den marokkanischen Jihadisten nicht abgesprochen werden. In einem Gebräu mit toten Ratten wollten sie Tetanusbakterien züchten, damit imprägnierte Nägel sollten in ihre Bomben eingefügt werden. Von den Splittern Getroffene sollten innerhalb von 24 Stunden lebensgefährlich erkranken, falls ihnen kein Impfmittel gespritzt würde.

Dies haben, glaubt man den Angaben der Sicherheitsbehörden, die Mitglieder einer rund 30köpfigen Jihadistengruppe ersonnen, die vergangene Woche in mehreren marokkanischen Städten ausgehoben worden ist. Die Verhaftungsaktion folgte auf die Bombenexplosion vom 11. März in einem Internetcafé in Casablanca, bei der allein der Selbstmordattentäter starb. Ein Komplize des Getöteten wurde bei der Detonation leicht verletzt und konnte entkommen, wurde jedoch bald darauf verhaftet.

Was zunächst wie ein gezieltes Attentat zum dritten Jahrestag der Anschläge von Madrid aussah, wird von den Ermittlern nun als eine Art Unfall eingestuft. Die beiden jungen Männer im Alter zwischen 20 und 30 Jahren wollten zwar durchaus Attentate begehen, aber nicht zu diesem Zeitpunkt und an diesem Ort. Vielmehr hatten sie auf jihadistischen Homepages herumsurfen wollen, waren dabei jedoch im Internetcafé vom Sohn des Besitzers entdeckt und zur Rede gestellt worden. Es kam zum Streit zwischen den jungen Männern, und der Sohn des Inhabers schickte sich an, die Polizei herbeizurufen. Abdelfettah Raydi, der nach bisherigen Erkenntnissen bereits seit vier Tagen mit seinem Bombengürtel durch die Gegend spazierte, wollte jedoch unbedingt seiner Verhaftung entgehen. Deshalb betätigte er den Auslöser.

Nunmehr gehen die marokkanischen Behörden davon aus, dass die beiden Besucher des Internet­cafés einer Gruppierung angehörten, deren Mitglieder fast alle aus Sidi Moumem stammten, einem Slumviertel in der Wirtschaftsmetropole Casablanca. Der Gruppe gehörten demnach mindestens sieben Selbstmordattentäter an, die sich darauf vorbereiteten, sich in fünf marokkanischen Städten, von Tanger im Norden bis zum Touristenort Agadir im Süden des Landes, in die Luft zu sprengen. Ziele sollten ausländische Schiffe im Hafen von Casablanca, Touristenhotels sowie Symbole der Staatsmacht sein. Es hätte sich um die ersten Bombenanschläge in Marokko seit den Attentaten vom Mai 2003 auf Touristeneinrichtungen und Gebäude der jüdischen Gemeinde in Casa­blanca gehandelt, bei denen 45 Menschen starben.

Am Dienstag voriger Woche wurden im Zuge der Ermittlungen 24 Personen festgenommen. Jihadistische Aktivitäten wurden zuvor mit al-Qaida in Verbindung gebracht. Dass die algerische GSPC, die letzte verbliebene bewaffnete Islamistengruppe des Landes, sich Ende Januar offiziell in »al-Qaida im Maghreb« umbenannte, schien die transnationale Kooperation zu bestätigen. Doch die algerischen Jihadisten sind in Bedrängnis, sie erlitten hohe Verluste, und die meisten ihrer Kämpfer wurden Ende März von der Armee in den Bergen der Kabylei eingekreist. Die marokkanischen Behörden sprechen nun von einer rein inländischen Kleingruppe, deren harter Kern aus Islamisten bestehe, die sich nach ihrer Verhaftung im Zusammenhang mit den Attentaten des Jahres 2003 im Gefängnis radikalisiert hätten.

Die Entscheidung für den Jihadismus hängt aber auch mit der Ungeduld junger Männer zusammen, die von den etablierten islamistischen Parteien und Bewegungen nicht mehr integriert werden können. Die bedeutendste Kraft des politischen Islam in Marokko, die »Partei für Gerechtig­keit und Entwicklung« (PJD) mit der Öllampe als Parteisymbol, verfolgt eine rein legalistische Strategie. Bei ihrer Gründung war sie von den ägyptischen Muslimbrüdern inspiriert, die ebenfalls eine »Strategie der Selbstbeschränkung« verfolgt. Die etablierte ­Staatsmacht soll nicht herausgefordert werden, ­solange die Gesellschaft dafür »nicht reif«, also nicht ­genügend ideologisch vorbereitet und ­»islamisiert« worden sei.

­Derzeit ­ähnelt die Strategie der PJD jener der moderat islamistischen und wirt­schafts­liberalen türkischen Regierungspartei AKP. Er gehört zur konservativ-institutionellen Strömung im politischen Islam, der es vor allem um die »Bewahrung der Sitten, der Moral und der kulturellen Identität« geht. Soziale Probleme werden auf Korruption und Laster zurückgeführt, folglich würden sie nach der erfolgreichen »Islamisierung« der Gesellschaft verschwinden.

Die PJD, die den Fortbestand der Mo­nar­chie befürwortet, könnte für ihre Strategie des Legalismus und des geduldigen Abwartens in näherer Zukunft belohnt werden. Politische Beobachter und Umfragen versprechen ihr jedenfalls einen großen Erfolg bei den Parlamentswahlen, die im September 2007 stattfinden sollen. Auch ihr Eintritt in die Regierung wird für möglich gehalten. Die Anhänger der aggressiven Variante des politischen Islam, die kompromisslos gegen die »gott­lose Ordnung« kämpfen wollen, können sich mit einer solchen Strategie auf Dauer nicht abfinden.

Zwischen beiden Varianten des politischen Islam steht in Marokko die Vereinigung des greisen Sheikhs Abdessalam Yassine, die Jamaa al-Adl wal-Ihsane (Gruppe der Gerechtigkeit und der guten Taten). Diese gewaltlose Organisation, deren Anhänger auch kurz Adlisten genannt werden, besteht aus zwei Strömungen. Auf der einen Seite tritt sie wie eine normale politische Partei auf, die Reformen verspricht und die Monarchie beseitigen will. Andererseits finden sich innerhalb der al-Adl-Bewegung auch Islamisten, die vornehmlich einem puritanischen Mystizismus huldigen.

Die Anhänger werden in ein striktes Programm der Alltagsgestaltung gedrängt, unter anderem mit der Verpflichtung, bereits eine Stunde vor Sonnenaufgang aufzustehen, um mehr als das vorgeschriebene Gebet verrichten zu können, und an zwei Tagen in der Woche zu fasten. Das mag sich wie eine religiöse Gehirnwäsche auf die Anhänger auswirken, allerdings steht kein gewalttätiger Aktivismus auf dem Programm.

Die Zahl der Adlisten wird auf 100 000 geschätzt. Die Bewegung ist verboten, wie alle Organisationen, die die Monarchie ablehnen, wird jedoch toleriert und offenbar von der Regierung sogar wohlwollend betrachtet. Die marokkanischen Behörden, so berichtete jedenfalls die Zeitschrift Jeune Afrique Mitte März, betrachteten die Adlisten inzwischen als »besten Damm gegen die jihadistischen Gruppen«. Denn wegen des starken sozialen Integrationsdrucks dieser Bewegung auf ihre Anhänger gäbe es kaum Übertritte zu anderen Gruppen, etwa solchen, die den bewaffneten Kampf aufnehmen möchten.