Die Stadt des Schuhkönigs

Die tschechische Stadt Zlín ist schon lange nicht mehr die Weltschuhzentrale von einst. Doch an die Zeit des absolutistischen Unternehmers Tomáš Bata erinnert vieles, nicht nur die Architektur.

Sie haben sich schick gemacht für ihren Chef. Helle Blusen, schmiegsame dunkle Röcke und frischgeputzte schwarze Pumps – die Arbeiterinnen demonstrieren auf der Maiparade des Jahres 1937 lässige Eleganz und begeisterte Zustimmung. Die Frauen lachen und jubeln, sie schwenken buschige Winkelemente und tragen ein Transparent, dessen Losung heute noch heiter stimmt: »Luftiges Schuhwerk für den schönen Mai!«

Gleich darunter zeigt ein Foto den Aufmarsch der Fabrikarbeiter. Der Einheitslook der überwiegend jungen Männer passt zur Kleiderordnung der Arbeiterinnen und An­gestellten: knappe dunkle Jacketts über weißen Hosen, dazu helle Schuhe und Schirmmützen. Ihre Parolen klingen forscher; sie benennen die Ziele der Firma: »Auf dem Globus gehen 1 100 Millionen Menschen barfuß – erobern wir die Welt!« Und: »Vom Pol bis zum Äquator – wir kennen keine Grenze!«

Die Fotos von der Maidemonstration im tschechischen Zlín irritieren, erinnern sie doch an Aufmärsche in den Hauptstädten europäischer Diktaturen. Aber die Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit gilt als Musterdemokratie. Nur, funktionierte die auch am Stammsitz des Bata-Konzerns? Für den sowjetischen Schriftsteller Ilja Ehrenburg war Tomáš Bata ein brutaler Ausbeuter und »Stiefelmussolini«, der das Selbstverständnis der »Prager Humanisten« diskreditierte.

Der Selfmademan hatte es nach dem Ersten Weltkrieg zum tschechischen »Schuhkönig« ge­bracht. Sein Verkaufsschlager waren leichte und billige Schuhe für jedermann. Ein Netz von Produktionsstätten und Filialen, das sich über die Tschechoslowakei und Europa bis nach Übersee erstreckte, ließ die Firma in den dreißiger Jah­ren zum Weltmarktführer aufsteigen. Der Erfolg beruhte in der Tat auf einer korporativen Einbindung von Gewerkschaften und politischer Opposition. Bata, seit 1923 Bürgermeister von Zlín, konnte ungestört schalten und walten, fast wie ein absolutistischer Herrscher.

Und heute? Was macht die Stadt, die von 1949 bis 1991 Gottwaldov hieß, im postindustriellen Zeitalter? Produziert sie noch Schuhe? Ist der Bata-Konzern, der 1939 seinen Firmensitz ins Ausland verlegte und in der Nachkriegs-Tschechoslowakei verstaatlicht wurde, nach 1989 zurückgekehrt? Was wurde aus seiner Hinterlassenschaft, insbesondere dem umfangreichen Bestand an funktionalistischer Architektur?

Diese Bauten aus Stahlbeton, Backstein und Glas wollte ich sehen und herausfinden, wie Zlín mit seiner Architekturmoderne umgeht. Neugierig machten mich außerdem Legenden vom Gründervater, der dort im Jahr 1932 mit seinem Privatflugzeug abgestürzt war.

Sein Stiefbruder und Nach­folger im Konzern, Jan Bata, ließ ihm ein Denkmal aus Glas errichten, dessen ­zentrales Schauobjekt – ­angeblich die Unglücksmaschine – treue Arbeiter später vor den Kommunisten versteckt hatten. Wurde diese Reliquie nun wieder ausgegraben?

Ich begebe mich ins Rathaus. Im Informa­tions­büro der Stadt erwartet mich Marcela Herinková. Die 22 jährige Absolventin der Tourismusschule in Jablonec spricht Deutsch; am Vortag hatte sie mir den Festsaal gezeigt, aus dem jetzt Orgelmusik ins granitverkleidete Treppenhaus schallte. Ich erhalte reichlich Informationsmaterial, das Zlín als Stadt im Grünen vorstellt. Dann führt mich Marcela, vorbei an einer Hochzeitsgesellschaft, ins Büro des Pressereferenten.

»Bata strebte nach Autarkie«, erzählt Herr Urbanovský. Bata habe regionale Ressourcen wie Leder und Holz ebenso genutzt »wie das Potenzial der Landjugend«. Deren Arbeitskraft wur­de nach amerikanischen Methoden effizient ausgebeutet. Zugleich baute die Fir­ma auch Schulen und Ausbildungsstätten. Viel investiert habe Bata in die eigene Entwicklung von Werkzeugmaschinen. »Das akkumulierte Knowhow zahlt sich weiter aus.«

Dennoch habe die Schuhindustrie ihre Füh­rungsposition eingebüßt. »Das staatliche Schuhkombinat Svít musste 1990 geschlossen werden, als Billig­importe den Markt über­schwemmten.« Die Jahresproduktion ging von 48 Millionen im Jahr 1937 auf zwei Millionen Paar Schu­he zurück, obwohl der Konzern, dessen Zentrale sich mittlerweile in Toronto befindet, im Jahr 220 Millio­nen Paar herstellt. Zwar hätten spezialisierte Zulieferfirmen überlebt, doch die wichtigsten Betriebe seien heute der Maschinen­bau und die Gummi- und Kunststoffindustrie.

Auf dem Marktplatz blühen die ersten Krokusse in den Rabatten. Auffällig viele junge Leute sind unterwegs: An der vor sechs Jahren gegründeten Tomáš-Bata-Universität sind in diesem Semester 10 500 Studenten eingeschrieben. »Bildung und Tourismus halten wir für wichtige Entwick­lungs­faktoren«, hatte Herr Urba­novs­ký betont. Auch der Bata-Konzern engagiert sich in Zlín, seitdem die Stadt Tomáš Bata jr. bei seiner Rückkehr 1989 herzlich begrüßt hatte. Der kanadische Unternehmer leitet den Verwaltungsrat der Universität, eine firmen­eigene Kulturstiftung residiert in der Villa des Vaters. Selbst­verständlich eröffnete die traditionsbewusste Firma auch ein repräsen­tatives »Flagshipstore«.

Um die Mittagszeit herrscht wenig Betrieb in der Buchhandlung Archa. Hier finden sich die Fotografien von 1937, in einem Buch von Jan Bata über dessen abenteuerliche Weltreise mit dem Flugzeug. Pünktlich zum Internationalen Tag der Arbeit war er zurückgekehrt, mit gefüllten Auftragsbüchern im Gepäck. Der hünenhafte Blon­de war ein Held seiner Zeit, vor allem jedoch ein erfolgreicher Unternehmer. Er forcierte in den dreißiger Jahren den Ausbau zum Mischkonzern, der außer billigen Schuhen auch Kunststoffe, Rei­fen und Sportflugzeuge produzierte. Dieser Chef hatte auch Italien besucht, und die Abbildungen von Industrie- und Prachtbauten lassen vermuten, dass er ein Verehrer von Mussolini war.

Zurück im Rathaus steige ich mit mei­ner Dolmetscherin Marcela ins Dachgeschoss hinauf. Wir haben noch einen Termin bei der Stadtarchitektin. Vor einem Messtischblatt erläutert Dagmar Nová das Denkmalprogramm von Zlín. »Die Stadt denkt nicht über einen Eintrag in die Unesco-Weltkulturerbeliste nach«, berichtet sie. »Aber wir haben un­s­ere eigene, sozusagen die tschechische Unesco.« Frau Nová wartet, bis Marcela übersetzt hat. »Die Stadt ist eine Weltdeutung …«, Marcela ringt nach Worten, »aber die Authentizität, die für den Ein­trag notwendig ist, wurde durch An- und Umbauten verletzt, denn alle Objekte sind bewohnt und genutzt für den Bedarf der Einwohner.«

Erst 1993 habe Zlín die Innenstadt weiträumig unter Denkmalschutz gestellt. Das Gebiet umfasst den historischen Siedlungskern, die Fabrik mit dem neuen Stadtzentrum und angrenzenden Werksiedlungen, aber auch be­deutende Einzelgebäude und Ensem­bles der neuen Ära ab 1945.

Wir sprechen über die Entwicklung nach Bata. »Das hohe Niveau von Architektur und Regionalplanung hat sich auch in der Nachkriegszeit erhalten«, erzählt die Ingenieurarchitektin, »obwohl Gahura und Karfík Zlín verließen.« Vladimír Karfík entwarf 1939 die 17­geschossige Konzernzentrale, das Wahrzeichen der Stadt.

František Gahura war der Chefarchitekt des Bata-Konzerns. Er schuf im Jahr 1927 den Gartenstadtplan, der Zlín auf die bereits typischen Ein- und Zweifamilien­haussiedlungen mit würfelförmigen Backstein­bauten festlegte. Wer nach Feierabend Hecken schneidet, so der Gedanke von Tomáš Bata, bleibt Kneipen und Parteilokalen fern. Gahura errichtete Fabrikgebäude und Sozialbauten der Firma, die aus normierten Elementen zusammengesetzt sind, fast wie eine Legostadt. Sein origi­nellster Bau ist das gläserne Mausoleum für Batas Flugzeug.

Nach dem Krieg erfolgte im Wohnungsbau eine radikale Wende hin zum kollektiven und städtischen Wohnen. Herausragendes Beispiel dieser sozialistischen Rich­tung des neuen Bauens ist das Kommunehaus von 1950, eine elfgeschossige Wohnscheibe im Osten von Zlín. Da­mit kam die linke Fraktion der tschechischen Architekturavantgarde zum Zug, die das Bau­gesche­hen der Zwischenkriegsjahre in Prag und Brno bestimmt hatte. Das Hochhaus brach mit der Hierarchie und Typologie der Konzern­architektur, übernahm aber wesentliche Elemen­te aus deren Konstruktion und Gestaltung.

Ähnlich das neue Kultur- und Universitätszentrum, das gegenwärtig dort entsteht, wo früher die zentrale Bata-Schule stand. »Das Bauwerk musste wegen schlechter Statik 1988 abgerissen werden«, sagt Frau Nová. »Eine neue Schule wurde an dieser Stelle nicht benötigt, deshalb entschied sich die Stadt mit der Universität für das neue Projekt.« Der Entwurf nimmt die städtebauliche Figur des Vorgänger­baus auf und verwendet die in der Region charakteristischen Materialien Backstein, Metall und Glas. Auch das Städtische Orchester, das gegenwärtig noch in Gahuras Glashaus, dem Bata-Mausoleum, untergebracht ist, soll dort einziehen. Dann könnte das legendäre Flugzeug an seinen angestammten Platz zurückkeh­ren.

Im Treppenhaus macht Marcela ein besorgtes Gesicht. Ob ich alles richtig verstanden habe? Sie bietet an, letzte Detailfragen schriftlich zu beantworten, meint aber wohl etwas anderes. Es bleibt die Unsicherheit, ob mein Bericht zur Selbstdarstellung der Kommune passen wird. Denn Marcela ist Lokalpatriotin. Wenn ihr Vertrag in einigen Monaten ausläuft, möchte sie in einer Tourismusagentur weiterarbeiten. Ihre Fremdsprachenkenntnisse werden gewiss gebraucht.

Die ehemalige Zentrale des Konzerns ist frisch renoviert. Auf dem Gebäude Nr. 21, einem der höchsten und technisch modernsten Hochhäuser Europas seiner Zeit, wo nunmehr Finanzamt und Regionalverwaltung residieren, gibt es ein Dachgarten-Café. Im Erdgeschoss befindet sich der berühmte Fahrstuhl, in dem ein funktionstüchtiges Direktoren­büro mitsamt Waschbecken, Schreibtisch, Telefon und einer Weltkarte an der Wand unter­gebracht sind. Auf seiner Kontrollfahrt durch alle Ebenen der Verwaltung träumte Jan Bata sicherlich schon von einer Rakete, um im Nu auf seinen Kautschukplantagen oder zum Geschäftsessen in Yokohama zu sein.

Die Aussicht vom Dachgarten ist großartig. Die Stadt liegt im Tal der Drevnice in einer hügeligen Mittelgebirgslandschaft. Im Süden, gleich hinter dem modernen Stadtzentrum mit Kaufhaus, beginnen die Wälder. Auf der anderen Flussseite fällt ein terassenförmig angelegtes Wohngebiet am Hang auf, das von Hochhäusern auf kurvigem Grundriss gekrönt wird. Dem Vergleich mit dem sozialistischen Wohnungsbau in Ostdeutschland hält es allemal stand.

Im Treppenhaus kommen mir die Kolonnen der Gebäudereinigerinnen entgegen. Dieses Haus lädt zum Rechnen ein. Wie lange hätte Herr Bata gebraucht, um jedem der 200 Angestellten pro Etage die Hand zu schütteln? Welche Fläche muss eine tüchtige Putz­frau aus Zlín (Alter et­wa 35 bis 45 Jahre) wischen, und kann sie davon ihre Miete bezahlen?

Über die künftige Entwicklung von Stadt und Region wird heute wieder im Bata-Hochhaus entschieden. Hier geht das Gelder aus Prag und Brüssel ein, von dem die abgewrackte Schuh­metropole bereits sichtlich profitiert hat. Bevor Mittel aus dem Europäischen Regionalfonds flossen, musste jedoch eine Verwaltungsreform ins Werk gesetzt werden, deren ausgeklügelte Architektur ebenfalls viel konstruktive Intelligenz verlangte. Zwar besitzt Zlínský kraj, eine der 14 neuen Regionen, die durch die Verwaltungsreform des Jahres 2000 aus 80 tschechischen Bezirken entstanden sind, jetzt mehr regionale Eigenständigkeit. Eu­ropäisches Gewicht bekam sie dennoch erst durch den Zusammenschluss mit der Nachbarregion Olomouc zur EU-Region »Mittelböhmen«. Wenn Hejtman Libor Lukáš, Gou­verneur des Zlínský kraj, heutzutage Präsident Václav Klaus in Zlín begrüßt, erinnern die Pressefotos nicht zufällig an den Besuch Masaryks in den zwanziger Jahren. Sechs Jahrzehnte nach dem Exil des Konzerns ist Zlín wieder eine aufstrebende Region, die in Tschechien und Europa eine Rolle spielt.

Abends besuche ich die Bata-Gedenkstätte. Der gläserne Kubus leuchtet am oberen Ende einer schmalen Parkanlage, die zwischen alter und neuer Stadt den Hang hinaufführt. Im »Haus der Künste«, wie das Gebäude heute heißt, ist ein Konzertabend angekündigt; es singt die »mährische Piaf«. Doch der Anblick wirkt enttäuschend. Die ursprünglich freistehende Kathe­drale puristischer Architekturmoderne wurde durch Anbauten ihrer Wirkung weitgehend beraubt.

Ilja Ehrenburg deutete die Narbe auf der Stirn von Tomáš Bata als »Erinnerung an den Zusammenstoß eines slawischen Schädels mit einer amerikanischen Maschine«. Am Ende bildeten der Unternehmer und die Technik tatsächlich eine untrennbare Einheit, spätestens im Wrack des abgestürzten Flugzeugs. Doch dass dieses erneut in der Gedenkstätte gezeigt wird, ist unwahrscheinlich, zumal es sich bei dem einstigen Ausstellungsobjekt kaum um das Original gehandelt haben dürfte. Vermutlich war es kein futuristischer Sarg, sondern ein Symbol des Fortschritts. Die bloße Rekonstruktion erscheint we­nig sinnvoll.

Was also macht Zlín künftig aus seinem Tempel der Moderne? Hoffentlich etwas Luftiges.