Auf die Straße gehen

Weder die einen noch die anderen! Wer für die Freiheit ist, war in diesen Tagen auf der Straße. von erinç güzel

Die großen »Kundgebungen für die Republik«, an denen über einer Million Menschen teilnahmen, waren erlaubte Rebellionen. Eine seit Jahrzehnten zum Stillschweigen gezwungenen Gesellschaft nutzte den Konflikt zwischen den kemalistischen Eliten und der religiösen Regierung dazu, um ohne Repressalien fürchten zu müssen ihren Ärger zu äußern: darüber, dass führende Politiker an der Errichtung eines Gottesstaats arbeiten. Oder darüber, dass in der Amtszeit der AKP trotz allem wirtschaftlichen Wachstum die Kaufkraft zurückgegangen ist.

»Weder Putsch noch Sharia«, sagen meine Freundinnen und Freunde. Und wir sind nicht die einzigen, die sich mit dieser Parole an der »Kundgebung für die Republik« in Istanbul be­teiligen. Als wir am Çaglayan-Platz ankommen, spricht Nur Serter, die stellvertretende Rektorin der Universität Istanbul. Ihr einziges Thema ist die »Bedrohung des Laizismus«. We­der sie noch ein anderer Redner erwähnt die Wirtschaftspolitik der AKP; keiner kritisiert die Verhältnisse im Land, die weit davon entfernt sind, demokratisch genannt werden zu können. Serter, die kürzlich Disziplinarverfah­ren gegen Studenten eröffnet hatte, weil diese »antiamerikanische Filme« gezeigt hätten, beschuldigt die Regierung, ein »Handlanger des US-Imperialismus« zu sein. Sie beklagt sich darüber, dass es »fast schon als Verbrechen« gelte, türkischen Nationalstolz zu bekunden, während es als »Men­schen­recht verkauft« werde, sich Armenier oder Kurde zu nennen. Damit aber sei nun Schluss: »Als türkische Bürgerin, als Patriotin bedanke ich mich bei den Streitkräften und rufe alle auf die Straße, die sich glücklich schätzen, Türken zu sein!«

Uns aber gefriert das Blut in den Adern. Mit wenigen Worten schafft sie es, all jene zu schmähen, die ohne Rück­sicht auf ethnische Zugehörigkeiten den Mord an Hrant Dink verurteilt haben. Zugleich erklärt sie alle, die gegen einen Gottesstaat protestieren, einfach so zu Türken. Spätes­tens in diesem Moment hat die Kundgebung einen Charakter bekommen, der uns missfällt: einen hässlichen, pantürkischen und militaristischen.

Unterdessen zeigen so manche linke und liberale Autorinnen und Autoren und leider auch die meisten Feministinnen, die diese Manifestationen als putschistisch verurteilen, Verständnis für die Werte der Sharia, die sie doch abzulehnen vorgeben. Besonders am Herzen liegt ihnen das islamistische Kopftuch. Vor lauter Fürsorge um jene Frauen, die »aus frei­en Stücken« ein Kopftuch tragen und denen das Recht verwehrt wird, eine Uni­versität zu besuchen, übersehen sie die vielen Frauen und Mädchen, die direkt oder indirekt dazu gezwungen werden, dieses Zeichen der Unfreiheit zu tragen.

»Ist es so schwer zu begreifen, dass Zwang zu Zorn, Zorn zu Hass und Hass zum Wunsch nach Ausmerzung führen?« fragt etwa Ezgi Ahçik in der feministischen Zeit­schrift Pazartesi und in der Jungle World (19/07). Ist es denn so schwer zu begreifen, möchte ich sie fragen, dass die meisten verschleierten Frauen schon in jungen Jahren von ihrer Umgebung zum Kopftuch gezwungen werden? Dass dieser »freie Wille« zumeist nur die Wahl von Menschen ist, die nie etwas anderes kennen gelernt haben? Dass die »sympathische Erschei­nung« von Hayrünnisa Gül, an der Ahçik Gefallen findet, nichts anderes ist als ein Teil der machiavellistischen Inszenierung der Güls und der Erdogans, mit der sie ihre zutiefst reaktionären Überzeugungen zu camouflieren versuchen? Deshalb, nur deshalb, sind wir an diesem Tag auf der Straße.

Nur zwei Tage später sind wir es erneut. Es ist der 1. Mai und Gewerkschafter, Studierende, Intellektuelle und Linke wollen auf dem Taksim-Platz der 36 Menschen gedenken, die 30 Jahre zuvor dort erschossen wurden, ohne dass die Tä­ter je ausfindig gemacht worden wären.

Im letzten Moment erteilt der Gouverneur ein Verbot und schickt 17 000 Polizisten, die den Platz und das Stadtzentrum in ein Schlachtfeld verwandeln. Die Medien berichten eher vom Verkehrschaos als von der Polizeigewalt (gut, wir wissen, dass die Revolution nicht im Fernsehen gesendet werden wird). Doch ebenso still sind die Sozial­demokraten, die bei den vorangegangenen Kundgebungen vorne gelaufen sind, still sind die Generäle. Niemand findet Anstoß daran, dass die Versammlungsfreiheit vergewaltigt wird. Die Armee und die Regierung, die noch 48 Stunden zuvor als unversöhnliche Gegner erschienen, zeigen sich einmütig. Denn diesmal handelt es sich um keine erlaubte Rebellion. Die aber wird gebraucht, um beides zu verhindern: die Junta wie die Sharia.

Erinç Güzel ist freie Journalistin und lebt in Istanbul.